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Witwe für ein Jahr (German Edition)

Witwe für ein Jahr (German Edition)

Titel: Witwe für ein Jahr (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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den Fuß geschnitten und blutete.
    »Was willst du?« fragte Mrs. Vaughn. Dann schaute sie an Eddie vorbei zu Teds Wagen. Bevor Eddie antworten konnte, fragte sie ihn: »Wo ist er? Kommt er nicht? Was ist los?«
    »Er ist verhindert«, teilte Eddie ihr mit, »aber er wollte Ihnen … das da geben.« In Anbetracht des starken Windes wagte er es nicht, ihr die Zeichnungen zu übergeben, sondern drückte sie weiterhin unbeholfen an die Brust.
    »Er ist verhindert?« wiederholte sie. »Was soll das heißen?«
    »Ich weiß es nicht«, log Eddie. »Aber hier sind sämtliche Zeichnungen … Darf ich sie irgendwo ablegen?« bat er.
    »Welche Zeichnungen? Ach … die Zeichnungen ! O Gott …«, sagte Mrs. Vaughn, als hätte ihr jemand einen Schlag in die Magengrube versetzt. Sie trat zurück, stolperte über den langen, weißen Bademantel und fiel beinahe hin. Eddie folgte ihr ins Haus; er kam sich vor wie ihr Scharfrichter. Auf dem polierten Marmorfußboden spiegelte sich der von der Decke herabhängende Lüster; in einiger Entfernung sah man durch eine offene Flügeltür einen zweiten Lüster, der über einem Eßtisch hing. Das Haus wirkte wie ein Kunstmuseum; das Eßzimmer hatte die Größe eines Bankettsaals. Eddie ging (mehrere hundert Meter weit, wie es ihm schien) auf den Tisch zu und legte die Zeichnungen dort ab; erst als er sich umdrehte, merkte er, daß Mrs. Vaughn ihm so lautlos und so dicht auf den Fersen gefolgt war wie ein Schatten. Als sie die oberste Zeichnung sah – eine von ihr und ihrem Sohn –, rang sie nach Luft.
    »Warum gibt er sie mir ?« schrie sie. »Heißt das, er will sie nicht mehr?«
    »Ich weiß es nicht«, antwortete Eddie kläglich. Hektisch blätterte Mrs. Vaughn die Zeichnungen durch, bis sie zu dem ersten Akt kam; dann drehte sie den Stapel um und nahm die Zeichnung, die jetzt obenauf lag. Eddie wandte sich ab; er wußte, welche Zeichnung es war.
    »O Gott …«, stöhnte Mrs. Vaughn, als hätte sie noch einen Schlag bekommen. »Aber wann kommt er?« rief sie Eddie nach. »Er kommt doch am Freitag, oder? Ich habe am Freitag den ganzen Tag Zeit für ihn, er weiß, daß ich den ganzen Tag Zeit habe. Er weiß es!« Eddie wollte weitergehen. Er hörte ihre nackten Füße auf dem Marmorboden – sie lief ihm nach. Unter dem großen Kronleuchter holte sie ihn ein. »Bleib stehen!« schrie sie. »Ich will wissen, ob er am Freitag kommt.«
    »Ich weiß es nicht«, wiederholte Eddie, während er sich rückwärts aus der Tür schob. Der Wind versuchte ihn zurückzudrängen.
    »Doch, du weißt es!« kreischte Mrs. Vaughn. »Sag es mir!«
    Sie folgte ihm nach draußen, aber der Wind warf sie fast um. Er blies ihren Bademantel auseinander; sie konnte ihn nur mit Mühe wieder zusammenraffen. Eddie sollte diesen Anblick nie vergessen, als müßte er sich stets ins Gedächtnis rufen, welches die schlimmste Art von Nacktheit war – jener ganz und gar ungewollte Blick auf Mrs. Vaughns schlaffe Brüste und das dunkle Dreieck ihres zerzausten Schamhaars.
    »Bleib stehen!« schrie sie abermals, aber die spitzen Kiesel in der Auffahrt hinderten sie daran, ihm zum Wagen zu folgen. Sie bückte sich, hob eine Hand voll Kieselsteine auf und schleuderte sie auf Eddie. Die meisten trafen den Chevy.
    »Hat er dir diese Zeichnungen gezeigt? Hast du sie angeschaut? Du verdammter Mistkerl, du hast sie gesehen, habe ich recht?« schrie sie.
    »Nein«, log Eddie.
    Als sich Mrs. Vaughn bückte, um noch eine Handvoll Steine aufzuheben, brachte ein Windstoß sie aus dem Gleichgewicht. Hinter ihr knallte die Haustür zu. Es hörte sich an wie ein Schuß.
    »Mein Gott! Jetzt bin ich ausgesperrt!« jammerte sie.
    »Gibt es denn keine andere Tür, die nicht abgesperrt ist?« fragte Eddie. (Das riesige Haus hatte bestimmt ein Dutzend Türen.)
    »Ich dachte, daß Ted kommt. Und er hat es gern, wenn alle Türen verschlossen sind.«
    »Und Sie haben nicht vielleicht irgendwo einen Schlüssel für Notfälle versteckt?«
    »Der Gärtner hat einen Schlüssel für den Notfall. Aber den habe ich heimgeschickt. Ted mag es nicht, wenn er da ist.«
    »Können Sie den Gärtner nicht anrufen?«
    »Von welchem Telefon aus denn?« schrie Mrs. Vaughn. »Du mußt ein Fenster einschlagen.«
    »Ich?« fragte Eddie.
    »Du weißt doch sicher, wie das geht, oder? Ich weiß es nämlich nicht!« jammerte Mrs. Vaughn.
    Wegen der Klimaanlage gab es nirgends ein offenes Fenster; und die Klimaanlage hatten die Vaughns wegen ihrer Kunstsammlung, die

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