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Witwe für ein Jahr (German Edition)

Witwe für ein Jahr (German Edition)

Titel: Witwe für ein Jahr (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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geradeaus. Marions linke Gesichtshälfte wurde von der Morgensonne angestrahlt, die hell durch das Fenster auf der Fahrerseite schien. Sie hatte das Fenster heruntergekurbelt, und Eddie sah ihr Haar im Wind fliegen. Kurz bevor er abbog, winkte Marion ihm (und ihrer Tochter) zu, als hätte sie vor, noch dazusein, wenn Eddie und Ruth nach Hause kamen.
    »Warum tut es nicht weh, wenn die Fäden rauskommen?« fragte Ruth noch einmal.
    »Weil der Schnitt geheilt ist. Die Haut ist wieder zusammengewachsen«, erklärte Eddie.
    Marion war aus seinem Blickfeld verschwunden. War es das gewesen? fragte er sich. »Bis dann, Eddie.« Waren das die letzten Worte gewesen, die sie an ihn richtete? »Ich vermute …« war das letzte, was sie zu ihrer Tochter gesagt hatte. Eddie konnte es nicht fassen, wie plötzlich alles kam: das heruntergekurbelte Wagenfenster, Marions im Wind flatterndes Haar, der aus dem Fenster winkende Arm. Und nur eine Gesichtshälfte wurde von der Sonne beschienen. Mehr war von ihr nicht zu sehen. Eddie konnte nicht ahnen, daß sowohl er als auch Ruth Marion siebenunddreißig Jahre lang nicht wiedersehen würden. Und in all den Jahren wunderte er sich über die scheinbare Unbekümmertheit, mit der sie fortgegangen war.
    Wie konnte sie nur? dachte Eddie immer wieder – und eines Tages sollte auch Ruth so über ihre Mutter denken.
    Die zwei Fäden wurden so schnell gezogen, daß Ruth gar keine Zeit hatte zu weinen. Sie fand die Fäden viel interessanter als die nahezu perfekte Narbe. Die feine weiße Linie war nur noch leicht von einem Rest Jod oder einem anderen Antiseptikum verfärbt, das einen gelblichbraunen Fleck auf der Haut hinterlassen hatte. Jetzt dürfe sie ihren Finger wieder naß machen, erklärte ihr der Arzt, und der bräunliche Fleck werde beim ersten ausgiebigen Bad verschwinden. Ruth jedoch war es viel wichtiger, daß die beiden auseinandergeschnittenen Fäden in einem Briefkuvert in Sicherheit gebracht wurden und die Schorfkruste, die an einem der beiden Knoten hing, unversehrt blieb.
    »Ich möchte Mummy meine Fäden zeigen«, sagte Ruth. »Und den Schorf.«
    »Laß uns erst an den Strand gehen«, schlug Eddie vor.
    »Ich möchte ihr erst den Schorf zeigen und dann die Fäden«, entgegnete Ruth.
    »Mal sehen …«, begann Eddie. Er hielt inne, um kurz zu überlegen. Die Arztpraxis in Southampton lag höchstens fünfzehn Gehminuten von Mrs. Vaughns Haus in der Gin Lane entfernt. Jetzt war es Viertel vor zehn; falls Ted noch dort war, hieße das, daß er sich bereits über eine Stunde bei Mrs. Vaughn aufhielt. Sehr wahrscheinlich war das nicht. Aber vielleicht war Ted eingefallen, daß Ruths Fäden heute morgen entfernt wurden, und vielleicht wußte er, wo sich die Arztpraxis befand.
    »Komm, wir fahren an den Strand«, sagte Eddie zu Ruth. »Beeilen wir uns.«
    »Erst der Schorf, dann die Fäden und dann der Strand«, antwortete sie.
    »Darüber unterhalten wir uns im Auto«, schlug Eddie vor. Aber mit einer Vierjährigen läßt sich nicht so leicht verhandeln; auch wenn nicht alle Verhandlungen schwierig sein müssen, erfordern sie doch in den meisten Fällen einen erheblichen Zeitaufwand.
    »Haben wir nicht das Bild vergessen?« fragte Ruth Eddie.
    »Das Bild? Welches Bild?«
    »Die Füße!«
    »Ach, du meinst das Foto. Das ist noch nicht fertig«, erklärte Eddie.
    »Das ist aber nicht sehr nett!« erklärte Ruth. »Meine Fäden sind raus. Mein Finger ist wieder ganz heil.«
    »Ja«, pflichtete Eddie ihr bei. Er glaubte, eine Möglichkeit zu sehen, Ruth von ihrem Wunsch abzulenken, ihrer Mutter den Schorf und die Fäden zu zeigen, bevor sie an den Strand fuhren. »Komm, wir gehen ins Rahmengeschäft und verlangen unser Bild«, schlug Eddie vor.
    »Ganz heil«, fügte Ruth hinzu.
    »Gute Idee!« verkündete Eddie. Ted würde bestimmt nicht in das Rahmengeschäft gehen. Eddie hielt es für fast so unbedenklich wie den Strand. Machen wir ruhig erst ein bißchen Theater um das Foto, dachte er sich; danach hatte Ruth bestimmt vergessen, daß sie ihrer Mutter den Schorf und die Fäden zeigen wollte. (Während sie auf dem Parkplatz einem Hund zusah, der sich kratzte, steckte Eddie das Kuvert mit dem kostbaren Inhalt ins Handschuhfach.) Doch das Rahmengeschäft war nicht ganz so risikolos, wie Eddie angenommen hatte.
    Ted hatte natürlich nicht daran gedacht, daß Ruths Fäden an diesem Morgen entfernt werden sollten; überhaupt hatte ihm Mrs. Vaughn nicht viel Zeit zum Denken gelassen. Keine

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