Witwe für ein Jahr (German Edition)
sah. Das lag nicht nur an den dunklen Haaren, sondern auch an ihrem quadratischen Gesicht, den weit auseinanderliegenden Augen, dem kleinen Mund und dem kräftigen Kinn. Die neunzehnjährige Ruth war zweifellos attraktiv, aber eher hübsch als schön; sie sah auf eine herbe, fast maskuline Art gut aus.
Verstärkt wurde dieser Eindruck noch durch ihre sportlich-aggressive Haltung auf dem Foto der Squashmannschaft. Eine weibliche Squashmannschaft gab es in Exeter erst ein Jahr später; 1973 durfte Ruth in der Jungenmannschaft mitspielen, wo sie an dritter Stelle plaziert war. Auf dem Mannschaftsfoto hätte man sie leicht für einen Jungen halten können.
Sonst tauchte Ruth Cole nur noch auf einem anderen Foto im Exeter-Jahrbuch 1973 auf. Es war ein Gruppenfoto der Mädchen, aufgenommen in ihrem Wohnheim, Bancroft Hall. Ruth steht heiter lächelnd in der Mitte der Gruppe; sie wirkt zufrieden, aber eher wie eine Einzelgängerin.
Und so konnte Eddie nach seinem desinteressierten Blick auf die Jahrbuch-Fotos Ruth auch weiterhin als das »arme Kind« betrachten, das er im Sommer 1958 schlafend zurückgelassen hatte. Zweiundzwanzig Jahre später, als Ruth Cole sechsundzwanzig war, erschien ihr erster Roman. Eddie war achtunddreißig, als er ihn las; und da erst gab er zu, daß Ruth wohl doch mehr von Marion hatte als von Ted. Und erst fünfzehn Jahre später begriff Eddie, daß sie mehr eigene Züge besaß als solche von Ted oder Marion.
Doch wie hätte Eddie das aufgrund eines T-Shirts voraussagen können, das Ruth schon im Sommer 1958 zu klein war? In diesem Moment wollte er, genau wie Marion, nichts wie fort von hier, und sein Fahrer wartete. Er stieg zu Eduardo Gomez in die Fahrerkabine des Pick-up. Als der Gärtner rückwärts aus der Einfahrt fuhr, kämpfte Eddie mit sich, ob er Ted, der noch vor dem Haus stand, zum Abschied winken sollte oder nicht. Wenn er zuerst winkt, winke ich zurück, beschloß er; er hatte den Eindruck, als wollte Ted jeden Augenblick mit dem kleinen T-Shirt winken, doch Ted hatte etwas Wirkungsvolleres im Sinn.
Bevor Eduardo aus der Einfahrt biegen konnte, lief Ted auf den Pick-up zu und hielt ihn an. Trotz der kühlen Morgenluft hatte Eddie, der sein umgedrehtes Exeter-Sweatshirt trug, den Arm ins offene Fenster auf der Beifahrerseite gelegt. Ted drückte seinen Ellbogen, während er sagte: »Was Marion angeht, gibt es noch etwas, was du wissen solltest. Sie war schon vor dem Unfall eine schwierige Frau. Ich meine, selbst wenn dieser Unfall nicht passiert wäre, Marion wäre trotzdem schwierig gewesen. Verstehst du, was ich meine, Eddie?«
Teds Hand übte einen gleichmäßigen Druck auf Eddies Ellbogen aus, aber Eddie war weder in der Lage, den Arm zu bewegen, noch zu sprechen. Er hält den Pick-up an, um mir zu sagen, daß Marion »eine schwierige Frau« ist, dachte Eddie. Selbst für einen Sechzehnjährigen hörte sich diese Formulierung fadenscheinig an; sie hörte sich sogar ausgesprochen falsch an. Es war eine typisch männliche Floskel. Genau das sagten Männer, die sich etwas auf ihre Höflichkeit einbildeten, von ihren Exfrauen. Genau das sagte ein Mann von einer Frau, die er nicht haben konnte – die aus irgendeinem Grund für ihn unerreichbar war. Genau das sagte ein Mann von einer Frau, wenn er etwas anderes meinte. Und wenn ein Mann das sagte, klang es eigentlich immer abwertend. Aber Eddie fiel keine passende Antwort ein.
»Ich habe etwas vergessen, nur noch eine letzte Kleinigkeit«, sagte Ted. »Was den Schuh angeht …« Hätte Eddie sich bewegen können, hätte er sich die Ohren zugehalten, aber er war wie gelähmt – eine Salzsäule. Er konnte sich gut vorstellen, daß Marion bei der bloßen Erwähnung des Unfalls zu Stein erstarrte. »Es war ein Basketballschuh«, fuhr Ted fort. »Timmy sagte dazu immer ›Knöchelschoner‹.«
Das war alles, was Ted noch zu sagen hatte.
Als der Pick-up durch Sag Harbor fuhr, sagte Eduardo: »Hier wohne ich. Ich könnte mein Haus für viel Geld verkaufen. Aber so, wie die Dinge liegen, könnte ich es mir nicht leisten, ein anderes Haus zu kaufen, zumindest nicht in dieser Gegend.«
Eddie nickte und lächelte ihn an. Aber er brachte kein Wort heraus; sein Ellbogen, der noch immer zum Fenster hinausragte, war taub von der kalten Luft, aber Eddie konnte den Arm nicht bewegen.
Sie nahmen die erste kleine Fähre nach Shelter Island, fuhren über die Insel und nahmen dann noch eine kleine Fähre vom Nordende der Insel nach Greenport.
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