Wladimir - die ganze Wahrheit über Putin
verstehen und beleidigt sein. Allein dieser Umstand würde den Stadtchef von politischen Plänen im föderalen Maßstab und unausgereiften Ambitionen abbringen.
Deswegen also wurde Alexei Nawalny schnellstens aus der Gefängniszelle geholt. Danach tat man alles, um seine Registrierung als Kandidat für das Bürgermeisteramt zu ermöglichen: Neunundvierzig kommunale Abgeordnete der Partei »Einiges Russland« gaben ihm ihre Unterschrift und ermöglichten ihm damit, diesen trickreichen »munizipalen Filter« 3 zu durchdringen.
Zwei Monate lang, von Anfang August bis zum 8. September 2013, führte Nawalny einen profilierten und lautstarken Wahlkampf nach amerikanischem Modell. Aber nicht nur das. Unterschwellige Hauptidee des Wahlkampfs war die These: Wer nicht für uns ist, ist gegen uns. Die Bürgermeisterwahlen selbst stellte der Stab des wichtigsten Oppositionellen als letzte Schlacht des Guten gegen das Böse dar, als eine Art »Armageddon light«: Nawalny als Überbringer der lichten Kräfte kämpft gegen den kollektiven Luzifer in Person des russischen Präsidenten Putin und des Bürgermeisters Sobjanin. Eigentlich war es nicht die Position des Stadtchefs, für die Nawalny in jenen Monaten kämpfte, und auch nicht das Recht, in Freiheit zu bleiben, nachdem er dem Gefängnis wegen der zweifelhaften Strafsache »Kirowles« entkommen war, sondern es war der Kampf um den Status des einzigen, alternativlosen Anführers der Opposition.
Seine Anhänger hat Nawalny nach dem klassischen Prinzip einer totalitären Sekte in Reih und Glied gebracht. Für sie ist er nicht nur ein Politiker, der sich an den Wahlen und/oder an Protestaktionen beteiligt. Er ist der Messias, der allmächtig, grundgütig und unfehlbar ist. Sein Programm ist die wundersame Rettung Russlands im Ganzen und jedes Adepten individuell, die sich mit Nawalnys Machtantritt vollziehen wird. Keinen Tag früher, aber auch nicht eine Stunde später. Dann werden die Anhänger des Führers – und nur sie – in das himmlische Neue Russland aufsteigen, in dem Politologen an wilde Tiere im Zoo verfüttert werden, zum Vergnügen der Kinder (ein solcher Vorschlag war vom Stab des Top-Oppositionellen während des Wahlkampfs zu hören, wonach ich mich augenblicklich vom Status eines Politologen lossagte – man will ja nicht mit seinem eigenen Körper die armen Tiere vergiften, die es in der Unfreiheit schon schwer genug haben).
Die Mobilisierung der totalitären Sekte im Laufe eines längeren Zeitabschnitts kann man nur im Zustand einer Massenpsychose unterstützen. Diese wird vom Predigerführer im Grunde auch generiert. Eine solche Art von Psychose verwandelt seine Anhänger in eine Masse (nach Freud), für die wie auch immer geartete rationale Argumente keine Bedeutung haben. Der Führer hat gesprochen – also ist es so. Ohne Rücksicht auf die Gesetze des Staates, der Politik oder/und der Physik.
Für die gewöhnliche demokratische Politik nach europäischem Muster ist Sektierertum eher schlecht. Denn diese Herangehensweise schränkt die Wählerbasis des charismatischen Führers stark ein. Aber in unserer Situation in der Russischen Föderation, die nicht sonderlich demokratisch ist, hat die totalitäre Sekte als Modell einer politischen Organisation ihre Vorteile. Um den Prozess eines Machtwechsels in einem (halb-)autoritären Staat in Gang zu bringen, braucht man oft einen tragischen exzessiven Detonator, so etwas wie die Selbstverbrennung des Obsthändlers in Tunis im Dezember 2010. Und für die Planung und Durchsetzung dieser Art von Exzess sind Sekten-Zombies weitaus passender als selbstständig denkende, verantwortungsvolle Bürger.
Für die Lenkung der Sekte der Zeugen Nawalnys (nennen wir sie vorläufig so) werden alle möglichen Standardtechniken angewandt, zum Beispiel:
• eine genaue Trennung der gesamten Menschheit in zwei Klassen: die höhere (Sektenmitglieder) und die niedere (diejenigen, die A.N. nicht unterstützen);
• die Verleihung einer moralischen Dimension an außermoralische Dinge: So haben mir einige aktive Mitglieder der Sekte persönlich mitgeteilt, dass ich eine Gemeinheit begehe, wenn ich nicht für ihr Idol stimme; das heißt dann wohl, mein verfassungsmäßiges Recht, den zu wählen, den ich möchte, gilt unweigerlich als amoralisch;
• der unter aktuellen und potenziellen Sektierern kultivierte Schuldkomplex gegenüber dem Führer – sollte das Urteil in der Sache »Kirowles« erneut anklägerisch sein, dann sind wir
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