Wladimir - die ganze Wahrheit über Putin
es, was ich tue. Wenn jemand es besser kann, dann soll er ans Werk gehen. Aber das kann niemand, denn ich bin von Gaunern und Schwindlern, von Alkoholikern und Tagedieben umgeben, zum Kuckuck mit ihnen.
Ich möchte ein weiteres Beispiel aus der neueren russischen Geschichte anführen. Anfang 2000 wirkte ich über meinen damaligen Boss Boris Beresowski an der Tangente des Wahlkampfstabs von WWP mit. Eines Tages formulierte ich für den Stab einige Themen und Ideen, die aus meiner Sicht geradezu gefährlich an Genialität grenzten. Sie sollten Putin helfen, seine fragilen Umfragewerte steigen zu lassen. Der Stab nahm das alles entgegen und antwortete mir ein paar Tage später: »Die Ideen sind hervorragend. Wladimir Wladimirowitsch hat alles abgelehnt.«
»Warum, wenn die Ideen gut sind?«, fragte ich etwas verdutzt (ich war noch jung, woher sollte ich es wissen!).
»Weil die Umfragewerte auch so schon für einen Sieg im ersten Wahlgang reichen. Und Wladimir Wladimirowitsch meint, das Wichtigste ist, nichts zu verschleudern.«
»Nichts zu verschleudern« ist der geheime Slogan von Putins Präsidentschaft. Daher kommt auch die Stabilitätsmanie.
Daraus folgt, dass Putin kein hemmungsloser Despot ist, sondern ein Politiker, der innerhalb der gegebenen Umstände agiert. Anfang der Nullerjahre stand er vor der Aufgabe, das Eigentum der herrschenden Jelzin-Klasse zu schützen – und diese Aufgabe hat er gelöst. (Worüber er sicher selbst erstaunt ist, auch wenn er sich wegen der abgelaufenen Verjährungsfrist wahrscheinlich nicht mehr kneifen muss.)
Wenn Putin heute wohl oder übel begreift, dass der aktuell andauernde und mit gewöhnlichen sedierenden Methoden unlösbare Konflikt mit dem RuBiBü seine geliebte Stabilität bedroht, dann ist er unter Umständen durchaus zu Zugeständnissen bereit, nicht nur in politischer, sondern sogar in psychologischer Hinsicht. Vor allem deshalb, weil das RuBiBü aus Menschen besteht, die nicht ganz seiner Vorstellung von Russland entsprechen. Das RuBiBü ist nämlich zu einem verantwortungsbewussten, europaorientierten und produktiven Leben bereit.
Deswegen hat der Kampf um die Macht gerade erst begonnen, keine Sorge.
Es ist anzumerken, dass Putin in unserer Geschichte einen Vorgänger hat – den Zaren Peter der Große. Nein, ich will sie nicht direkt miteinander vergleichen. Peter hatte großartige Pläne und Ambitionen, die WWP fehlen. Peter hat einen riesigen Staat aufgebaut, der von seiner Form her europäisch und seinem Gehalt nach asiatisch war. Putin hingegen reicht es, »nichts zu verschleudern«.
Aber es gibt auch etwas, was sie verbindet – ihr Verhältnis zum russischen Volk. Denn auch Peter hatte in seiner Jugend eine Begegnung mit »den Deutschen«, die ihm ebenfalls ein wenig den Mut nahm.
Wie wir wissen, ist der Zar mit seinem Volk unbarmherzig umgegangen. Aber das Übelste, was er den Russen angetan hat, war Sankt Petersburg – das jesuitisch wohl nicht nach seinem Gründer, sondern nach dem Heiligen Apostel Petrus benannt wurde.
Peter der Erste ließ die Reichshauptstadt auf Sumpfboden bauen, in einem depressiven Klima, um jeden Preis. In dieser klammen Atmosphäre muss jeder denkende Mensch früher oder später auf die Idee kommen: »Es ist Zeit, die alte Wucherin zu erschlagen, denn es ist längst sieben« (Dostojewski, Schuld und Sühne). Nicht zufällig rief die Symbolfigur der Slawophilen, Iwan Aksakow, dazu auf, Petersburg von ganzem Herzen zu hassen, worin er die Hauptaufgabe jedes echten Russen sah.
Als regierende Dynastie kann man sich für diesen Ort auch nur eine deutsche vorstellen. Kein Zufall also, dass die Hauptstadt nach Moskau verlegt wurde, kaum dass die deutsche Dynastie verschwunden war. Dort ist sie bis heute. Und das neu gewonnene Leningrad, die Stadt der Helden aus dem Poem ohne Helden 2 , war nichts weiter als ein großer Siedlungspunkt.
Im Namen des wichtigsten Ortes der heutigen russischen Oppositionsbewegung liegt wahrhaft Gogol’sche Mystik. Denn mit dem Begriff Bolotnajaplatz (Sumpfplatz) verbindet man Sankt Petersburg in seinem ganzen Spektrum – die Stadt Dostojewskis, dämonisch und tränenreich. Wladimir Putin ist aus den Tiefen dieses Bolotnajaplatzes wie aus dem Plasma-Ozean von Solaris (dem gleichnamigen Roman von Staniław Lem) an die Oberfläche des russischen Staates gedrungen. Kann er die Emotionen jener nicht begreifen, die sich ihm heute entgegenstellen?
1 Ein Projekt des Producers Andrei Wassiljew,
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