Wo bist du
antwortete, das Sula-Tal sei fern von allem. Jeder Brief von Philip endete mit einem Wort oder Satz darüber, wie er sie vermisse. Jede Antwort von Susan umging das Thema. Philip arbeitete inzwischen für eine Werbeagentur an der Madison Avenue. Er ging jeden Morgen zu Fuß durch SoHo, stieg dann in einen Bus und saß eine halbe Stunde später in seinem Büro. Das ganze Team arbeitete auf Hochtouren, um den Wettbewerb für die Pressekampagne von Ralph Lauren zu gewinnen. Sollten sie den Zuschlag bekommen, konnte seine Karriere beginnen. Es würde sein erstes wirklich kreatives Projekt sein, und er träumte, über seinen Zeichentisch gebeugt, schon von dem Tag, an dem er die Abteilung leiten würde. Wie gewöhnlich brach er fast unter der Last der Arbeit zusammen; seine Skizzen mussten praktisch schon abgeliefert sein, bevor sie in Auftrag gegeben wurden.
Nachdem sie im Morgengrauen des Neujahrstages aus seiner Wohnung geflüchtet war, hatte Mary ihn angerufen, und seither trafen sie sich dreimal die Woche Ecke - Prince/Mercer Street, um in der rauchigen und lärmenden Atmosphäre von Fanelli's, wo ein Menü noch erschwinglich war, zu Abend zu essen. Unter dem Vorwand, ihr ein interessantes Thema für ihre Artikel zu geben, erzählte er oft von Susan, wobei er die Geschichten, die sie in ihren Briefen erwähnte, noch aufbauschte. So verstrich der Abend in dem lauten, rauchigen Lokal. Wenn er mitten in einem Satz bemerkte, dass ihr die Augenlider schwer wurden, beglich er die Rechnung und begleitete sie zu Fuß nach Hause.
Mit der Zeit stellte sich jedes Mal, wenn sie sich vor ihrer Tür verabschiedeten, eine gewisse Befangenheit ein. Ihre Gesichter näherten sich einander, aber im Moment der verwirrten Erwartung eines Kusses wich Mary plötzlich zurück, um im finsteren Eingang ihres Hauses zu verschwinden. Die Hände tief in den Manteltaschen vergraben, machte sich Philip dann auf den Heimweg und dachte, was es wohl mit dieser Beziehung auf sich hatte, die sich zwischen der angehenden Journalistin und dem Werbegrafiker anzubahnen schien.
Auf den Straßen kündigte die Kleidung der Frauen den Frühlingsanfang an. Er sah weder die Knospen des Monats April noch die Blütenpracht im Juni, so sehr beanspruchte ihn die Arbeit. Am vierzehnten Juli schlug der Blitz in das New Yorker Elektrizitätswerk ein, und die ganze Stadt blieb für vierundzwanzig Stunden ohne
Strom. »Die große Panne«, die in der gesamten internationalen Presse Schlagzeilen machte, stellte neun Monate später die Geburtenstatistik von New York auf den Kopf, Philip aber verbrachte die Nacht allein zu Hause und zeichnete im Licht von drei Kerzen, die auf seinem Schreibtisch standen.
Mitte August, bevor sie ihren ersten Job als Journalistin bei der Frauenzeitschrift Cosmopolitan antrat, verbrachte Mary ihren einwöchigen Urlaub bei Freunden in den Hamptons.
Susans Flugzeug verlässt nach einem Zwischenstopp den Airport von Miami. Der Terminal von Newark wird gerade umgebaut. Philip erwartet sie an der Gangway. Ein Mal ist noch keine Gewohnheit. Sie lässt ihre Reisetasche fallen und wirft sich ihm in die Arme. Lange bleiben sie so aneinander geschmiegt stehen. Er greift nach ihrer Tasche, nimmt ihre Hand und führt sie zur Bar.
»Und wenn unser Tisch besetzt ist?«
»Ich habe das Nötige veranlasst.«
»Bleib stehen, lass mich dich ansehen. Du bist älter geworden.« »Danke für das Kompliment.«
»Nein, ich finde dich sehr attraktiv.«
Sie streicht mit den Fingern über seine Wangen, lächelt ihn zärtlich an und zieht ihn hin zu jenem Ort, der »ihren« geworden ist. Trotz ihrer Müdigkeit strahlt sie. Er fragt sie nach ihrem Leben aus, als wolle er jede Spur der letzten Minuten ihres vorangegangenen Treffens auslöschen, sie aber erzählt nicht von ihrem Winter. Während sie ihm ihren gewöhnlichen Alltag beschreibt, greift er nach seinem Stift und zeichnet Susans Gesicht auf ein Blatt seines Spiralblocks.
»Und dein Juan, was macht der?« »Ich habe mich schon gefragt, wann du auf ihn zu sprechen kommst. Juan ist fort. Gott allein weiß, ob ich ihn je wiedersehen werde.«
»Habt ihr euch gestritten?«
»Nein, das ist alles viel komplizierter. Wir haben ein kleines Mädchen verloren, und seitdem ist nichts mehr so, wie es war. Irgendetwas ist zerbrochen, und wir haben es nicht zu reparieren verstanden. Wir haben uns stundenlang angestarrt, als hätten wir ihren Tod zu verantworten.«
»Was ist in jener Nacht passiert?«
»Es hat
Weitere Kostenlose Bücher