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Wo bist du

Wo bist du

Titel: Wo bist du Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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Susan nahm einen Lappen, tauchte ihn in eine Schale mit Wasser, wrang ihn aus und kühlte damit die feuchte Stirn der Kleinen. Sie drückte ihr einen Kuss auf die Lippen und flüsterte ihr Worte ins Ohr, wie sie ihr in den Sinn kamen:
    »Ich bin's, ich bin gekommen, um dich zu heilen. Ich war unten im Tal, und ich hatte plötzlich große Lust, dich zu sehen. Wenn es dir besser geht, erzähle ich dir alles, denn die Reise hierher war ein richtiges Abenteuer ...«
    Sie legte sich neben sie, strich mit den Fingern durch ihr langes schwarzes Haar, um es zu entwirren, und küsste ihre glühenden Wangen.
    »... Ich wollte dir sagen, dass ich dich liebe und dass du mir gefehlt hast. Sehr. Dort unten im Tal habe ich die ganze Zeit an dich gedacht. Ich wollte schon früher kommen, doch es war unmöglich wegen des Regens. Juan ist da, auch er hatte Lust, dich zu sehen. Ich bin gekommen, um dich zu holen, damit du ein paar Tage bei mir im Tal verbringen kannst; dort möchte ich dir so viel zeigen. Ich will dich auch mit ans Meer nehmen, dann bringe ich dir das Schwimmen bei, und wir können in den Wellen baden. Du hast das Meer noch nie gesehen, aber es wird dir gefallen. Wenn die Sonne über dem Meer aufgeht, ist der Ozean wie ein Spiegel. Und dann zeige ich dir den großen Wald, der sich in der Ferne erstreckt und in dem viele herrliche Tiere wohnen.«
    Susan zog das Mädchen an sich, und so konnte sie die letzten Schläge ihres Herzens an ihrer Brust spüren. Sie wiegte sie sanft hin und her und summte ein Lied nach dem anderen, bis der Tag sich neigte. Schließlich trat Juan in den Raum und kniete neben ihr nieder.
    »Wir müssen sie jetzt gehen lassen und ihr Gesicht bedecken, damit sie zum Himmel aufsteigen kann.«
    Susan antwortete nicht. Ihr leerer Blick fixierte einen Punkt an der Decke. Juan musste ihr aufhelfen und sie am Ellenbogen stützen. Er führte sie nach draußen. An der Tür drehte sie sich noch einmal um. Eine Frau hatte den kleinen Körper bereits zugedeckt. Susan ließ sich an der Mauer zu Boden gleiten. Juan setzte sich neben sie, zündete eine Zigarette an und steckte sie ihr zwischen die Lippen. Beim ersten Zug musste sie husten. So blieben sie eine Weile sitzen und starrten in den Himmel.
    »Glaubst du, sie ist schon da oben?«
    »Ja.«
    »Ich hätte früher kommen sollen.«
    »Weil Sie glauben, Sie hätten etwas ändern können? Sie verstehen nichts vom Entschluss Gottes. Zweimal schon hat Er sie zu sich gerufen, und zweimal hat der Mensch Seinen Plan durchkreuzt: Alvarez, der sie aus den Schlammfluten gerettet hat, und dann Sie mit der Operation. Seine Hand aber ist immer die stärkere. Er wollte sie bei sich haben.«
    Dicke Tränen rollten über Susans Wangen. Schmerz und Zorn schnürten ihr das Herz zusammen. Rolando Alvarez trat aus dem Haus und kam auf sie zu. Er setzte sich zu ihnen. Sie versteckte das Gesicht zwischen den Knien und ließ ihrem Zorn freien Lauf.
    »In welcher Kirche müsste man beten, damit das Leid dieser Kinder endlich aufhört. Und, wenn sie sterben, wer sind dann die Unschuldigen auf diesem Planeten von Irren?» Alvarez sprang auf und musterte Susan. Mit harter, unerbittlicher Stimme sagte er ihr, dass Gott nicht überall sein, dass er nicht jeden retten könne. Susan hatte den Eindruck, dass dieser Gott seit langem vergessen hatte, sich um Honduras zu kümmern.
    »Erheben Sie sich und hören Sie auf, sich selbst zu bemitleiden«, fuhr er fort. »Es liegen Hunderte von toten Kindern in diesen Tälern begraben. Die Kleine war nur eine Waise, die ein Bein verloren hat. Sie müssten mehr Demut besitzen, um das zu verstehen. Es geht ihr dort bei ihren Eltern besser als hier. Dieser Schmerz gehört Ihnen nicht, und unsere Erde ist zu sehr mit Wasser durchtränkt, um auch noch Ihre Tränen aufzunehmen. Wenn Sie sich nicht beherrschen können, dann gehen Sie nach Hause zurück!»
    Der Mann mit der stattlichen Figur kehrte ihr den Rücken zu und verschwand um die Ecke der Gasse. Juan überließ Susan ihrem Schweigen. Er ging Alvarez nach und fand ihn an eine Lehmwand gelehnt. Er weinte.
    Es wurde ein Frühjahr der Trauer, das im Rhythmus der sich irgendwo am mittelamerikanischen Himmel kreuzenden Briefe verstrich.
    Im März schrieb Philip von seiner Sorge um sie: Die New Yorker Zeitungen berichteten in ihren Kolumnen von den Ursachen und Folgen des Belagerungszustands in Nicaragua, ein Krisenherd, der sich für seinen Geschmack viel zu nahe bei ihrem Standort befand. Sie

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