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Wo bist du

Wo bist du

Titel: Wo bist du Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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zwei Bauern mit Esel und Karren losgeschickt, war aber fest davon überzeugt gewesen, dass sie die beiden im besten Fall verletzt zurückbringen würden. Der Ältere sagte zu Dona Blanca, sie müsse einen Schutzengel gehabt haben, um dieses Unwetter zu überleben. »Wir müssen Juan suchen!«
    »Da gibt es nichts zu suchen, man muss nur die Augen öffnen! Der Berg ist kahl gefegt; bis ins Tal hinein hat niemand überleben können. Schauen Sie nach rechts, das Wrack Ihres Wagen ragt aus dem Morast heraus. Wenn er es nicht aus eigener Kraft bis zum Dorf geschafft hat, ist er irgendwo unter den Schlammmassen begraben. Wir zimmern ihm ein Kreuz und stellen es dort auf, wo Sie von der Straße abgerutscht sind.«
    »Die Straße ist abgerutscht, nicht wir.«
    Der jüngere der beiden Männer half Susan auf den Karren, ließ die Lederpeitsche knallen, und das Tier setzte sich in Bewegung. Während sich der Esel die Serpentinen hinaufplagte, sorgte sich Susan um das Schicksal ihres Schützlings, der, wie sie sich sagte, ihr Beschützer geworden war.
    Nach einer Stunde hatten sie das Dorf erreicht. Sie sprang vom Karren und rief Juans Namen. Keine Antwort. Und erst jetzt wurde sie sich der sonderbaren Stille bewusst, die in der einzigen Straße herrschte. Nicht ein Mann stand mehr an eine Häuserfassade gelehnt, um eine Zigarette zu rauchen, nicht eine Frau war unterwegs, um Wasser aus dem Brunnen zu holen. Sie dachte sofort an die Zwischenfälle, die manchmal in bewaffnete Kämpfe zwischen Bergbauern und aus El Salvador geflohenen Banden von Guerilleros ausarteten. Aber die Grenze war relativ fern, und man hatte noch nie von Grenzüberschreitungen in diesen Regionen des Landes gehört. Panik ergriff sie. Sie schrie erneut den Namen ihres Freundes, erhielt aber keine andere Antwort als das Echo ihrer eigenen Stimme.
    Juan erschien im Eingang des letzten Hauses am Ende der Straße. Sein Gesicht war lehmverschmiert, und seine abgespannten Züge verrieten Traurigkeit. Er trat langsam auf sie zu. Susan war wütend.
    »Das war völlig schwachsinnig, mich einfach so allein zurückzulassen. Ich habe mich furchtbar um dich gesorgt. Mach das nie wieder; du bist nicht zehn Jahre alt, soweit ich weiß!«
    Er ergriff sie beim Arm und zog sie mit.
    »Folgen Sie mir, und seien Sie still.«
    Sie weigerte sich und sah ihm in die Augen.
    »Hör endlich auf, mir zu sagen, ich soll still sein!«
    »Ich bitte Sie, machen Sie nicht solchen Lärm, wir haben keine Zeit zu verlieren.«
    Er führte sie zu dem Haus, aus dem er gekommen war, und sie traten in den einzigen Raum des Gebäudes. Bunte Stoffe hingen als Sonnenschutz vor den Fenstern. Susan brauchte mehrere Sekunden, bis sich ihre Augen an das spärliche Licht gewöhnt hatten. Sie sah den Rücken von Rolando Alvarez. Er kniete am Boden, erhob sich und drehte sich nach ihr um. Seine Augen waren gerötet.
    »Es ist ein Wunder, dass sie gekommen sind, Dona Blanca; sie hat ständig nach Ihnen verlangt.«
    »Was ist passiert? Warum ist das Dorf wie ausgestorben?« Der Mann führte sie zum hinteren Ende des Raums und zog ein Tuch zur Seite, hinter dem sich, direkt an der Wand, ein Schlaflager befand.
    Und jetzt wusste Susan, warum sie diese gefährliche Reise angetreten hatte. Das kleine Mädchen lag bewusstlos auf dem Lager. Ihr bleiches, schweißbedecktes Gesicht deutete auf ein schweres Fieber hin, das sie niedergestreckt hatte. Susan zog mit einem Ruck das Laken auf ihrem Körper zur Seite. Das Wenige, das von ihrem Bein geblieben war, war violett und geschwollen von Wundbrand. Sie hob das Hemdchen hoch und stellte fest, das auch die Leistengegend betroffen war. Die Infektion hatte sich im ganzen Körper ausgebreitet. Hinter ihrem Rücken erklärte die zitternde Stimme von Rolando, dass er wegen des Gewitters, das drei Tage lang getobt habe, das Kind nicht habe ins Tal bringen können. Er habe gebetet, den Motor des Lastwagens zu hören, und letzte Nacht habe er geglaubt, sein Wunsch sei erhört worden, bis er die Scheinwerfer die Schlucht habe erleuchten sehen. Man müsse Gott danken, dass die Dona verschont geblieben war. Für die Kleine aber sei es zu spät, das wisse er seit zwei Tagen, sie habe einfach keine Kraft mehr. Die Frauen des Dorfes hätten abwechselnd an ihrem Lager gewacht, seit gestern aber habe sie die Augen nicht mehr aufgeschlagen und keine Nahrung mehr zu sich genommen. Er hätte sie ein zweites Mal retten wollen und sein eigenes Bein hergegeben, wenn das möglich wäre.

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