Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wo bist du

Wo bist du

Titel: Wo bist du Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
Vom Netzwerk:
dieselbe Angst aus. Sie hätte gerne aufgehört zu atmen, aber sie wusste, es war unmöglich, denn alle Versuche der zwei vorangegangenen Wochen waren gescheitert. Und so biss sie sich immer heftiger auf die Zunge, so wie ihre Mutter es ihr beigebracht hatte: »Wenn du den Geschmack von Blut auf deiner Zunge spürst, heißt das, dass du noch lebst, und wenn du in Gefahr bist, darfst du nur an eine einzige Sache denken, darfst nicht aufgeben, dich nicht zurückziehen, musst versuchen zu überleben.« Sie schmeckte das Blut in ihrem Mund und konzentrierte sich ganz auf dieses Gefühl und konnte so ihre Angst niederkämpfen. Philips ruhige Stimme, manchmal unterbrochen von Schweigen, drang vom anderen Ende des Flurs zu ihr herüber. Bei jedem Wutausbruch der Frau drückte sie ihr Gesicht noch etwas tiefer in das Kissen, so als fürchte sie, der Strom von Worten könne sie mitreißen. Bei jedem neuen Aufbrausen schloss sie die Augen noch etwas fester, sodass manchmal Sterne unter ihren Lidern tanzten.
    Sie hörte eine Zimmertür zuschlagen und Männerschritte die Treppe hinabeilen.
    Philip ging ins Wohnzimmer und setzte sich aufs Sofa, die Ellenbogen auf die Knie gestützt, den Kopf zwischen den Händen. Thomas wartete einige Minuten, ehe er das Schweigen brach:
    »Spielst du eine Runde mit mir?«
    »Nicht jetzt, mein Junge.«
    »Wo sind die anderen?«
    »Jede in einem Zimmer.«
    »Bist du traurig?«
    Die Frage wurde nicht beantwortet. Thomas, der auf dem Teppich saß, zuckte die Schultern und wandte sich wieder seinem Spiel zu. Die Welt der Erwachsenen war manchmal eigenartig. Philip setzte sich hinter ihn und schlang die Arme um ihn.
    »Alles wird in Ordnung kommen«, sagte er mit sanfter Stimme.
    Dann griff er nach einem der beiden Joysticks.
    »Bei welchem Spiel willst du verlieren?«
    In der ersten Kurve drängte Thomas' Lamborghini den Toyota seines Vaters in den Graben.
    Gegen Mittag kam Mary wieder herunter. Wortlos ging sie in die Küche, öffnete den Kühlschrank und begann, das Mittagessen zuzubereiten. Sie aßen zu dritt. Lisa war schließlich eingeschlafen. Thomas entschloss sich, das Schweigen zu brechen:
    »Bleibt sie? Es ist nicht normal, wenn sie meine große Schwester wird, ich war schließlich der Erste.«
    Mary ließ die Salatschüssel fallen, die sie gerade zum Tisch tragen wollte. Sie warf Philip, der nicht auf die Frage seines Sohnes antwortete, einen vernichtenden Blick zu. Thomas betrachtete belustigt den Salat, der auf den Fliesen ausgebreitet lag, und biss herzhaft in seinen Maiskolben. Er wandte sich zu seiner Mutter um: »Aber es kann auch gut sein!«, fuhr er fort.
    Philip hatte sich erhoben, um die Glasscherben vom Boden aufzusammeln.
    »Was findest du gut?«, fragte er ihn.
    »Ich wollte immer gerne einen Bruder oder eine Schwester haben, aber ich wollte nicht von einem Baby, das schreit, geweckt werden, und keine stinkenden Windeln riechen! Sie ist zu alt, um mir mein Spielzeug zu klauen ... Die Farbe ihrer Haut ist hübsch, die anderen in der Schule werden neidisch sein ...«
    »Ich glaube, wir haben deinen Standpunkt verstanden!«, unterbrach ihn Mary, ohne ihn seinen Satz beenden zu lassen.
    Der Regen fiel jetzt noch dichter und machte alle Hoffnung auf einen Sonntagsspaziergang zunichte. Wortlos bereitete Mary ein Sandwich zu. Sie strich Mayonnaise auf eine Scheibe Toastbrot, legte ein Salatblatt darauf, dann eine Scheibe Schinken, zögerte, nahm an Stelle des Schinkens ein Stück Hühnchen, zögerte erneut, gab die Scheibe Schinken auf das Hühnchen und schließlich eine zweite Scheibe Brot auf das Ganze. Sie legte ihre Komposition auf eine Untertasse, deckte sie mit Klarsichtfolie ab und stellte sie in den Kühlschrank.
    »Wenn die Kleine nach dem Aufwachen Hunger hat, steht ein Teller für sie im Kühlschrank«, sagte sie.
    »Gehst du weg?«, fragte Thomas.
    »Ich bin heute Nachmittag mit meiner Freundin Joanne verabredet, komme aber rechtzeitig zurück, um dich zu baden.«
    Damit ging sie nach oben und zog sich um. Bevor sie das Haus verließ, küsste sie ihren Sohn, wobei sie Philip, der auf der Treppe stand, einen finsteren Blick zuwarf. Der Rest des Tages verging wie ein herbstlicher Sonntag; die langen Minuten unterschieden sich nur durch das abnehmende Tageslicht. Gegen siebzehn Uhr kam Mary zurück und widmete sich Thomas. Als sie sich zum Abendessen an den Tisch setzten, schlief Lisa noch immer.
    Im Bad ließ Mary sich reichlich Zeit und wartete, bis Philip im Bett lag. Im

Weitere Kostenlose Bücher