Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wo bist du

Wo bist du

Titel: Wo bist du Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
Vom Netzwerk:
Schlafzimmer machte sie sofort das Licht aus und legte sich an den äußersten Rand des Bettes. Philip ließ einige Minuten verstreichen, dann brach er das Schweigen.
    »Hast du es Joanne erzählt?«
    »Ja, ich habe mir alles von der Seele geredet, falls du das meinst.« »Und was hat sie gesagt?«
    »Was sollte sie schon sagen? Dass das alles grauenhaft ist!« »Grauenhaft, ja, das ist das richtige Wort!«
    »Sie meinte damit, was mir widerfährt, Philip, so, und jetzt lass mich schlafen.«
    Philip hatte das Licht im Flur angelassen, damit Lisa, wenn sie aufwachte, den Weg zur Toilette fände. Um drei Uhr morgens schlug sie die Augen auf. Ihr Blick glitt durch das dunkle Zimmer, sie versuchte zu verstehen, wo sie war. Der zum Fenster geneigte Baum bewegte heftig seine Zweige wie Arme, die zu lang für ihn waren. Die Blätter schlugen gegen die Scheiben, als wollten sie die dicken
    Tropfen abschütteln, die auf ihnen lagen. Sie erhob sich, trat auf den Flur hinaus und schlich leise die Treppe hinab. In der Küche öffnete sie den Kühlschrank. Sie griff nach dem Teller, hob eine Ecke der Frischhaltefolie an, schnupperte an dem Sandwich und stellte es wieder zurück.
    Sie nahm eine Scheibe Toastbrot aus dem Paket und eine Banane aus der Obstschale, die sie mit einer Gabel zerdrückte und mit Rohrzucker vermischte. Dann bestrich sie das Brot sorgfältig damit und verschlang es gierig. Anschließend stellte sie alles zurück an seinen Platz und wusch trotz der Spülmaschine ihren Teller und was sonst noch im Spülbecken stand, ab.
    Im Hinausgehen warf sie einen letzten Blick auf die Küche und kehrte zurück in ihr Bett.
    Acht Tage vergingen, in denen sich für Mary ein Leben abzeichnete, das nicht mehr das ihre war. Da Lisas Geburt in der Botschaft registriert worden war, wurde ihre amerikanische Staatsbürgerschaft nicht in Frage gestellt. Susans Brief, in dem sie Philip zum Vormund der kleinen Lisa - geboren am neunundzwanzigsten Januar 1979 um acht Uhr zehn im Sula-Tal in Honduras, Mutter Susan Jensen, Vater unbekannt - bestellt hatte, war schließlich nach vielen bürokratischen Hindernissen anerkannt worden. Obwohl Susans Kollegen die gute Idee gehabt hatten, das Schreiben vor der Abreise nach New Jersey auf der amerikanischen Botschaft notariell beglaubigen zu lassen, verbrachten Philip und Lisa den Montag in den Mühlen der Bürokratie. Sie mussten durch lange Gänge laufen, eine große weiße Marmortreppe hinaufgehen, die in eine riesige, holzgetäfelte Halle mündete, ähnlich der des Präsidentenpalastes, von dem Susan ihr manchmal erzählt hatte. Anfangs hatte sie sich ein wenig gefürchtet, denn hatte ihre Mutter ihr nicht immer gesagt, Paläste seien gefährliche Orte mit viel Militär und Polizei? Sie hatte sie nie mitnehmen wollen, wenn sie dorthin hatte gehen müssen. Aber der
    Präsident, der in diesem Palast wohnte, war offenbar nicht besonders wichtig, denn es gab nur zwei Soldaten an dem Tor, an dem man sich in seine Taschen schauen lassen musste wie am Flughafen. Um der Langeweile zu entgehen, zählte sie die Marmorfliesen am Boden, es gab mindestens Tausend, fünfhundert weiße und fünfhundert braune. Sie konnte ihre Berechnungen nicht beenden, da der Mann hinter der Glasscheibe ihnen schließlich den Weg erklärt hatte, das heißt eine andere Treppe, diesmal mit einem rot-schwarz gemusterten Teppich. Sie waren von einem Büro zum nächsten gewandert, um verschiedenfarbige Papiere einzusammeln und dann an einem anderen Schalter anzustehen. Es war wie eine riesige Schnitzeljagd für Erwachsene, doch nach den traurigen Gesichtern zu urteilen, hatten die Organisatoren dieses Spiels selbst nicht viel Freude daran. Gab Philip auf dem Formular die richtigen Antworten, so stempelte die Frau oder der Mann hinter der Scheibe es ab und gab ihm einen neuen Fragebogen, den er ausfüllen und in einem anderen Zimmer abgeben musste. Dann gingen sie durch einen weiteren Gang, manchmal auch denselben zurück, zum Beispiel durch den mit den einunddreißig Lampen an der Decke - zwischen jeder von ihnen lagen zehn schwarz-weiße Bodenfliesen -, es war der längste und breiteste, dann kam wieder eine Treppe, und ein Erwachsener, der ihnen den Weg zur nächsten Etappe wies. Philip wollte sie immer bei der Hand nehmen, aber Lisa ging hartnäckig einige Schritte neben oder vor ihm her. Sie verabscheute es, festgehalten zu werden, ihre Mutter hatte so etwas nie getan. Als sie wieder im Auto saßen, schien Philip

Weitere Kostenlose Bücher