Wo bist du
in seinem Büro vorbeizukommen. Er versuchte, sie zu beruhigen: Im schlimmsten Fall würde das Mädchen eine Nacht im Freien schlafen und am nächsten Morgen zurückkommen; die meisten solcher Eskapaden endeten so.
Die Nacht versprach lang zu werden. Philip kehrte erfolglos zurück, seine Stimme klang erstickt, als er zu seiner Frau trat, die am Küchentisch saß. Er nahm ihre Hand in die seine, legte den Kopf auf ihre Schulter, küsste sie und flüchtete sich in sein Arbeitszimmer. Marys Blick folgte ihm. Dann ging auch sie nach oben und betrat sein Zimmer, ohne anzuklopfen.
»Ich spüre sehr wohl, dass du nicht Herr der Lage bist, und das kann ich gut verstehen. Aber einer von uns beiden muss einen klaren Kopf behalten. Du bleibst hier, machst das Abendessen für Thomas und gehst ans Telefon. Wenn sich irgendetwas tut, ruf mich sofort auf dem Autotelefon an, ich werde nachsehen, wie weit sie sind.«
Sie ließ ihm keine Zeit für Einwände; aus dem Dachfenster seines Arbeitszimmers sah er, wie ihr Wagen um die Straßenecke bog.
Millers Gesicht verhieß nichts Gutes, und als er sich eine Zigarette anzündete, empfand auch sie das dringende Bedürfnis zu rauchen. Mehrere Streifenwagen hatten die Viertel der Stadt überprüft, in denen sich die Jugendlichen trafen, und hatten Lisas wenige Freunde befragt. Die Polizei war der Meinung, sie könnte einen Zug genommen und nach Manhattan gefahren sein. Miller hatte schon ein Fax an die Zentrale der New Yorker Hafenbehörde geschickt, die den Suchbefehl an die Polizeireviere der Stadt weiterleiten würde.
»Und dann?«, fragte sie.
»Wissen Sie, jeder Kommissar hat im Durchschnitt vierzig ähnliche Fälle auf dem Tisch. Die meisten Jugendlichen sind nach drei oder vier Tagen wieder zu Hause. Sie müssen Geduld haben. Wir werden weiterhin in Montclair unsere Streifenwagen fahren lassen, aber New York ist außerhalb unseres Einflussbereichs, und wir haben keinerlei Recht, dort einzugreifen.«
»Ihre Verwaltungsgrenzen sind mir egal. Wer genau wird sich darum kümmern, meine Tochter wiederzufinden?« Miller verstand ihre Verzweiflung, doch er konnte nichts weiter für sie tun. Das Gespräch war beendet, aber Mary war unfähig, sich zu erheben. Miller zögerte kurz, öffnete seine Schreibtischschublade und reichte ihr eine Visitenkarte. »Gehen Sie morgen zu meinem Kollegen und sagen Sie, dass ich Sie schicke; er ist Kommissar im Polizeidezernat Midtown-Süd. Ich werde ihn anrufen und ihm Bescheid geben.«
»Warum rufen Sie ihn nicht jetzt gleich an?«
Miller sah ihr in die Augen und nahm den Telefonhörer ab. Er erreichte einen Anrufbeantworter und wollte schon auflegen, doch die Beharrlichkeit in Marys Blick trieb ihn dazu, eine Nachricht zu hinterlassen, die den Fall und den Grund seines Anrufs zusammenfasste. Sie bedankte sich und verließ das Präsidium.
Sie fuhr bis zu den Hügeln von Montclair, von wo aus man einen Blick über New York hatte. Irgendwo in dieser Welt von Millionen blitzenden Lichtern verlor sich eine Vierzehn-jährige in einer unsicheren Nacht. Mary drehte den Zündschlüssel und nahm die Autobahn nach Manhattan. Am Busbahnhof zeigte sie dem Personal das Foto von Lisa, das sie in ihrer Brieftasche hatte. Niemand erkannte das Mädchen. Sie erinnerte sich an den Copyshop, in dem sie ihre Magisterarbeit hatte binden lassen, als sie noch in New York wohnte. Er war die ganze Nacht über geöffnet, und sie fuhr sofort hin. Eine zwanzigjährige Studentin mit Lockenschopf hatte Nachtdienst. Mary erklärte ihr Anliegen, das junge Mädchen bot ihr voller Mitgefühl einen Kaffee an und setzte sich an ihren Computer. Sie schrieb die Überschrift »Vermisst« und dann alle Angaben, die Mary ihr diktierte. Als das Blatt ausgedruckt war, half sie ihr, das Foto darauf zu kleben, und machte einhundert Kopien. Mary trat auf die Straße, und die Studentin befestigte eines der Blätter an der Schaufensterscheibe.
Sie fuhr von einem Viertel zum nächsten, durchquerte die ganze Stadt. Jedes Mal, wenn sie auf einen Streifenwagen traf, hielt sie ihn an und bat um Aufmerksamkeit. Um sieben Uhr morgens fuhr sie zum siebten Revier und überreichte dem wachhabenden Polizisten die Visitenkarte, die ihr Miller gegeben hatte. Er nahm sie entgegen, erklärte ihr aber, sie müsse sich gedulden oder etwas später wiederkommen, der Kommissar beginne seinen Dienst erst um acht Uhr. Sie setzte sich auf eine Bank und nahm gern den Becher mit Kaffee an, den er ihr nach einer halben
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