Wo bist du
zahlen, doch er nahm ihr die Rechnung aus der Hand und machte ihr ein Zeichen, dass sie gehen solle. Sie bedankte sich und verließ das Café. Den ganzen Tag über war sie in den Straßen der Stadt unterwegs. Als sie am Gebäude der New York Times vorbeikam, spürte sie einen Stich im Herzen. Ohne nachzudenken, fuhr sie nach SoHo und hielt unter dem Fenster ihrer früheren Wohnung an. Das Viertel veränderte sich immer mehr. In einem Schaufenster sah sie ihr Spiegelbild und verzog verärgert das Gesicht. »Darum kommt es mir so vor, als ob das alles schon endlos lange zurückliegt«, murmelte sie. Ein Anruf bei Philip bestätigte ihr, dass es in Montclair nichts Neues gab. Sie nahm ihren ganzen Mut zusammen, atmete tief durch, trank einen weiteren Kaffee bei Fanelli's und steuerte dann das Latino-Viertel der Stadt an.
Der Nachmittag ging zu Ende, Lisa war seit vierundzwanzig Stunden verschwunden, und Mary spürte, wie ihr die Angst den Brustkorb zuschnürte: Die Müdigkeit verstärkte ihre Anspannung noch zusätzlich. Als sie in der Fußgängerzone eine Mutter mit ihrer Tochter, die etwa Lisas Alter hatte, sah, blieb sie betroffen stehen. Die Frau blickte sie ernst an und ging ihrer Wege. Eine Welle der Traurigkeit überflutete sie. Am frühen Abend machte sie sich auf den Weg zum Präsidium. Von ihrem Autotelefon aus rief sie Pilguez an.
Er schlug vor, sie im selben Café wie am Morgen zu treffen. Sie traf als Erste ein. Ihre Augen mussten sich an das Halb-dunkel gewöhnen. Sie steckte all ihr Kleingeld in einen Zigarettenautomaten in der Nähe der Toiletten und zog ein Päckchen Winston.
Sie setzte sich an die Theke, der Kellner gab ihr Feuer, und sie sog den Rauch tief ein. Sofort wurde ihr schwindelig, und sie begann zu husten.
Der Kellner fragte sie besorgt, ob sie sich nicht wohl fühle. Das stoßweise, nervöse Lachen, mit dem sie antwortete, verwunderte ihn.
Kommissar Pilguez kam herein, sie setzte sich mit ihm an einen Tisch in einer Nische. Er bestellte ein Bier, sie zögerte und nahm dasselbe. »Ich habe mich fast den ganzen Tag mit dem Verschwinden ihrer Tochter beschäftigt. Es gibt wohl kaum eine Streife in New York, die nicht auf dem Laufenden ist. Ich war auch im puerto-ricanischen Viertel und habe dort mit meinen Informanten gesprochen: keine Spur von dem Mädchen. In gewisser Weise ist das eher eine gute Nachricht, denn es
bedeutet, dass sie nicht in die Hände von Gangstern geraten ist, und sollte etwas Derartiges geschehen, so bekomme ich sofort Bescheid. Lisa steht unter meinem Schutz, in manchen Kreisen ist das mehr wert, als einen Spitzel an den Fersen zu haben.«
»Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll«, murmelte Mary. »Tun Sie's lieber nicht. Hören Sie zu, ich will Ihnen etwas erklären. Sie müssen jetzt nach Hause fahren, sonst bauen Sie noch einen Unfall, und das wäre wenig nützlich, wenn wir Ihre Tochter wiedergefunden haben. Doch bis dahin können Sie uns helfen.«
Pilguez erinnerte sie daran, dass Jugendliche andere Wege gehen als Erwachsene. Lisa war vielleicht, einem Impuls folgend, weggelaufen, aber sicherlich nicht ohne Ziel. Sie hatte einen Weg eingeschlagen, hinter dem sich eine gewisse Logik verbarg, nämlich ihre eigene. Der Weg, der zu ihr führte, bestand aus Erinnerungen, und Mary musste ihr Gedächtnis befragen, um diejenigen zu finden, die eine besondere Bedeutung haben könnten. Hatte Lisa während eines Spaziergangs in einem Park einen Baum bemerkt, der sie an ihre Heimat erinnerte? Dann saß sie jetzt wahrscheinlich darunter.
»Da war diese Reise in die Rockies«, sagte Mary.
»Gab es einen Ort, der in der Kindheit der Mutter eine Rolle gespielt hatte?«
Mary dachte an die Hügel von Montclair, von wo aus man die Stadt überblicken konnte, aber dort war sie schon gewesen.
»Na gut, dann sehen Sie noch einmal nach!«, sagte Pilguez. Erinnerte sie sich an eine honduranische Fahne, und sei sie noch so klein? Lisa war sicher dort und betrachtete sie. Es gab nur die, die sie auf den
Baumstamm gemalt hatte. Gab es irgendeinen Ort, der für sie eine Verbindung zu Honduras symbolisierte? Mary erinnerte sich an die rote Rutschbahn, von der Philip erzählt hatte, aber das lag so lange zurück, es war in den ersten Tagen nach ihrer Ankunft gewesen.
»Nun, an Ihrer Stelle würde ich losrasen und mir all diese Orte ansehen. Wahrscheinlich ist sie dort irgendwo.« Pilguez korrigierte sich. »Das heißt, in Ihrem Zustand rasen Sie besser nicht. Wenn Sie etwas
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