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Wo bitte geht's nach Domodossola

Titel: Wo bitte geht's nach Domodossola Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bill Bryson
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vertrödeln konnte. Auf einmal hatte ich Zeit für alles Mögliche: Ich konnte die Schnürsenkel aus meinen Stiefeln ziehen und solange wieder einfädeln, bis die Enden exakt gleichlang waren, ich konnte den Inhalt meiner Brieftasche ordnen, mich um die Haare in meiner Nase kümmern, all die Dinge auflisten, die ich tun würde, wenn ich etwas zu tun hätte. Manchmal saß ich auf der Bettkante und starrte einfach Löcher in die Luft. Selbstgespräche waren keine Seltenheit. Meistens unternahm ich lange, kalte Spaziergänge und beobachtete den ereignislosen Himmel, um anschließend in der wohligen Wärme hinter den beschlagenen Fenstern von Kocken’s Café einen Kaffee zu trinken.
    So ungefähr stelle ich mir das Leben eines Rentners vor, dachte ich. Ich begann sogar, ein kleines Notizbuch mit auf meine Spaziergänge zu nehmen, um meinen Tagesablauf darin festzuhalten, genau wie es mein Vater tat, nachdem er sich zur Ruhe gesetzt hatte. Tag für Tag marschierte er zu der Imbißstube im Supermarkt unseres Viertels, und kam man gerade vorbei, sah man ihn in seine Notizbücher schreiben. Nach seinem Tod fanden wir einen ganzen Schrank voll mit diesen Büchern, und jedes einzelne war gefüllt mit Eintragungen wie: »4. Januar. Bin zum Supermarkt gegangen. Habe zwei Tassen koffeinfreien Kaffee getrunken. Wetter mild.« Plötzlich verstand ich, warum er das tat.

    Nach und nach bekam ich Kontakt zu den Einheimischen. Mit der Zeit kannte man mich im Kocken’s und im Postamt und in der Bank, und immer häufiger wurde ich mit einem erkennenden Nicken gegrüßt. In der Hotelbar gehörte ich schon fast zum Inventar. Ich schätze, dort galt ich als harmloser Exzentriker, als der Mann aus England, der kam und blieb und blieb. Eines Tages, als mir überhaupt nichts Besseres einfiel, suchte ich den Bürgermeister auf. Ich sagte ihm, ich sei Journalist, aber im Grunde wollte ich nur mit jemandem reden. Er hatte ein Gesicht wie ein Leichenbestatter und trug Jeans und ein blaues Arbeitshemd, in dem er einem Sträfling auf Hafturlaub beunruhigend ähnlich sah. Aber er war sehr nett und berichtete mir ausführlich von den wirtschaftlichen Problemen der Stadt. Als wir uns verabschiedeten, sagte er:
    »Sie müssen uns mal besuchen kommen. Ich habe eine sechzehnjährige Tochter.« Das ist ja unheimlich großzügig, dachte ich, aber ich bin ein glücklich verheirateter Mann. »Sie würde sich sehr freuen, mit jemandem Englisch sprechen zu können.«
    Aha. Ich wäre gekommen, aber es folgte nie eine Einladung. Anschließend ging ich zu Kocken’s und schrieb in mein Tagebuch: »Habe den Bürgermeister interviewt. Wetter kalt.«

    An einem Sonntag nachmittag bekam ich zufällig mit, daß sich ein Mann etwa meines Alters mit dem Eigentümer des Hotels auf Norwegisch unterhielt, mit seinen Kindern aber feinstes Londoner Englisch sprach. Sein Name war Ian Tonkin. Er war Engländer, hatte ein Mädchen aus Hammerfest geheiratet und unterrichtete nun Englisch am dortigen Gymnasium. Er und seine Frau Peggy luden mich zum Abendessen ein, tischten Unmengen von Rentierfleisch (köstlich) und Moltebeeren (geheimnisvoll, aber ebenfalls köstlich) auf und waren die Freundlichkeit in Person. Als sie von meinem vergeblichen Warten auf das Nordlicht hörten, sprachen sie mir ihr Mitgefühl aus.

    »Du hättest kurz vor Weihnachten hier sein sollen – ah, es war wunderbar«, sagten sie.
    Peggy erzählte mir eine traurige Geschichte. Als sich die Deutschen 1944 auf dem Rückzug befanden, brannten sie Hammerfest nieder, damit die Stadt der vorrückenden russischen Armee keinen Schutz bieten konnte. Die Einwohner wurden mit Schiffen evakuiert und sollten den Rest des Krieges in der Fremde verbringen. Während sie den Hafen verließen, mußten sie zusehen, wie ihre Häuser in Flammen aufgingen. Peggys Vater zog die Hausschlüssel aus der Tasche, warf sie über Bord und seufzte: »Die werden wir wohl nicht mehr brauchen.«
    Nach dem Krieg kehrten die Leute nach Hammerfest zurück. Bis auf die Kapelle lag alles in Schutt und Asche. Mit kaum mehr als ihren bloßen Händen bauten die Leute ihre Stadt wieder auf, Haus für Haus. Mag es auch keine besondere Stadt gewesen sein, mag sie auch am Ende der Welt gelegen haben, es war ihre Stadt, und sie liebten sie, und ich glaube nicht, daß ich jemals eine Gruppe von Menschen so sehr bewundert habe. Von Peggy und Ian und von all den anderen, mit denen ich sprach, habe ich vieles über Hammerfest erfahren. Ich weiß von

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