Wo bitte geht's nach Domodossola
Streifenwagen mit der Aufschrift POLITI fast bis zum Dach unter Schneewehen begraben. Nach dem Frühstück wagte ich mich nach draußen. Die Straßen waren noch verlassen, und in den Hauseingängen türmte sich der Schnee. Auch jetzt trieb der Sturm noch seine Späße mit der Stadt. Die Straßenlaternen schwankten und flackerten. Wie von Krämpfen geschüttelt zuckte ihr Licht über den Schnee. Die Weihnachtsdekoration klirrte. Vor mir segelte ein Pappkarton über die Straße und wurde über den Hafen hinaus getragen. Es war sehr kalt. Auf der ungeschützten Straße in Richtung Landspitze wünschte ich wieder, ich hätte die Russenmütze doch gekauft. Der Sturm war erbarmungslos. Er trieb winzige Eispartikel vor sich her, die sich in meine Wangen bohrten. Ich vermummte mein Gesicht mit einem Schal, stemmte mich gegen den Wind und trottete weiter. Vor mir tauchte eine Gestalt im Schneegestöber auf. Der Mann trug eine Russenmütze, wie ich interessiert feststellte. Als er näher kam, zog ich meinen Schal aus dem Gesicht, um ihm einen heiteren Gruß zuzurufen –
»Ziemlich frisch heute, was?« oder etwas in der Art –, doch er ging an mir vorbei, ohne mich auch nur anzusehen. Hundert Meter weiter kamen mir zwei weitere Leute entgegen, ein Mann und eine Frau, die schweigend in die Stadt marschierten. Auch sie gingen an mir vorbei, als wäre ich unsichtbar. Merkwürdige Leute, dachte ich. Die Landspitze erwies sich als ziemlich uninteressant. Ein Durcheinander von Lagerhäusern und kleinen Werften, über denen sich Kräne ächzend gen Himmel reckten. Ich war gerade im Begriff umzukehren, als ich ein Schild entdeckte, das mir den Weg zu etwas mit dem Namen Meridianstøtten wies. Ich beschloß zu erkunden, was sich dahinter verbarg, und folgte einem Pfad an der dem tosenden Meer zugewandten Seite der Landspitze.
Hier wütete der Sturm noch schlimmer. Zweimal hätte er mich fast hochgehoben und einige Meter vor sich her getragen. Nur die Spitzen meiner Stiefel berührten noch den Boden. Breitete ich die Arme aus, glitt ich nur vom Wind getrieben auf den Schuhsohlen dahin. Es machte unglaublichen Spaß. Irisches Windsurfing nannte ich es und ergötzte mich daran, bis ein unerwarteter Windstoß mir die Beine wegriß. Ich schlug so heftig mit dem Kopf auf das Eis, daß mir plötzlich wieder einfiel, wo ich vor Monaten den Schlüssel zum Kohlenschuppen liegengelassen hatte. Die Kopfschmerzen und der Gedanke, die nächste Böe könnte mich ins Meer schleudern, wie zwei Stunden zuvor den Pappkarton, ließen mich von dieser Sportart Abstand nehmen. Den Rest des Weges zum Meridianstøtten legte ich mit äußerster Vorsicht zurück. Meridianstøtten war ein Obelisk, wie sich herausstellte. Er stand auf einem Hügel inmitten einer Landschaft aus Lagerhäusern. Später erfuhr ich, daß man ihn zum Gedenken an die erste wissenschaftliche Vermessung des Erdumfangs errichtet hatte, die im Jahr 1840 genau an dieser Stelle abgeschlossen worden war. (Die zweite historische Besonderheit von Hammerfest ist, daß es als erste Stadt Europas mit elektrischer Straßenbeleuchtung versorgt wurde.) Unter größter Anstrengung kletterte ich zum Obelisken hinauf, das Schneetreiben war jedoch inzwischen so dicht, daß ich die Inschrift nicht lesen konnte. Noch auf dem Rückweg in die Stadt nahm ich mir vor, an einem anderen Tag wiederzukommen, doch ich war bis heute nicht dort.
Am Abend speiste ich im Restaurant des Hotels, gönnte mir anschließend an der Bar ein paar Bier für fünfzig Øre pro Schluck und dachte, daß sich der Laden sicher bald mit Leben füllen würde. Es war schließlich Silvester. Aber es blieb so ruhig wie in einer Leichenhalle mit Alkoholausschank. Zwei Männer in Rentier-Pullovern saßen vor ihren Gläsern und starrten schweigend in den leeren Raum. Nach einer Weile bemerkte ich einen weiteren Gast, der allein in einer dunklen Ecke saß. Nur seine glühende Zigarette verriet ihn in der Dunkelheit. Als der Kellner kam, um meinen Teller abzuräumen, fragte ich ihn, was man an einem Abend wie diesem in Hammerfest unternehmen könne. Er überlegte einen Moment und schlug dann vor:
»Warum gehen Sie nicht zum Postamt und zünden die Telefonbücher an?«
Das hat er natürlich nicht gesagt, als er mir nämlich gerade antworten wollte, meldete sich die einsame Gestalt in der Ecke zu Wort, was sich in etwa so angehört haben muß: »Hey, du trübe Tasse, du dämliches Stück Rentierscheiße, wie lange soll das noch dauern,
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