Wo bitte geht's nach Domodossola
altmodischen Besen das Laub von den Straßen, und ich hatte das sichere Gefühl, daß sofort jemand in Uniform hinter einem Baum hervortreten würde, sollte ich hier unauffällig mein Kaugummipapier fallen lassen. Sandwiches essen sie in Locarno scheinbar nicht. Als ich nach langem Suchen endlich eine Bäckerei gefunden hatte, schien deren Angebot ausschließlich aus klebrigem Gebäck zu bestehen. In einer Ecke entdeckte ich etwas, das ich für einen Berg von Wurstbrötchen hielt. Hungrig wie ich war, kaufte ich drei und verließ den Laden. Wie sich jedoch herausstellte, waren die nicht gerade billigen Dinger mit Feigenmus bestrichen – ein Nahrungsmittel, das nur Großmütter essen würden, und das auch nur, wenn sie ihre Zahnprothese nicht finden können. Das Zeug schmeckte wie in Hustensaft eingelegte Teeblätter. Nachdem ich zweimal mutig hineingebissen hatte, packte ich sie dann doch in meinen Rucksack, sie schmeckten einfach zu scheußlich, und nahm mir vor, später einen weiteren Versuch zu wagen. Ich vergaß sie dann allerdings und entdeckte sie erst zwei Tage später, als ich mein letztes sauberes Hemd aus dem Rucksack zog, an dem die Dinger klebten.
Um den üblen Nachgeschmack mit einem Mineralwasser hinunterzuspülen, ging ich ins Bahnhofscafe. Vielleicht gab es in der ganzen Schweiz keinen unfreundlicheren Ort als diesen. Trotz der acht Gäste war es im Raum so still, daß man das Ticken der Uhr hören konnte. Der Kellner stand am Tresen und trocknete träge ein Bierglas nach dem anderen ab. Er machte keine Anstalten, mich zu bedienen. Erst als ich die Hand hob und nach einem Mineralwasser verlangte, brachte er eine Flasche und ein Glas und stellte beides wortlos vor mich hin, um sich sogleich wieder seinen nassen Gläsern zu widmen. Er machte ein Gesicht, als hätte er soeben erfahren, daß seine Frau mit dem Milchmann durchgebrannt ist und all seine Waylon Jennings Platten mitgenommen hat. Doch dann bemerkte ich denselben verbitterten Ausdruck auf den Gesichtern aller Anwesenden, was mir nach der übermäßig guten Laune der Italiener doch recht unterkühlt erschien. Mir gegenüber saß eine alte Dame mit einer Krücke, die zu Boden polterte, als sie aufzustehen versuchte. Der Kellner verfolgte das Geschehen mit unbeteiligtem Interesse. »Na, was machst du nun, du alter Krüppel?« schien sein Blick zu fragen. Ich eilte der Frau zu Hilfe, woraufhin sie mir einen vernichtenden Blick und ein frostiges »Grazie« schenkte und davonhumpelte. Locarno ist ein seltsamer Ort, entschied ich und löste eine Fahrkarte für den zwei-Uhr-Zug nach Domodossola, ein Name, für dessen Aussprache es siebenunddreißig Möglichkeiten gibt. Der Schalterbeamte ließ sie mich alle ausprobieren und runzelte jedesmal ernst die Brauen, als könne er sich beim besten Willen nicht vorstellen, welche benachbarte Gemeinde einen Namen trage, der einem Amerikaner solche Schwierigkeiten bereiten könne. »Ah, Domodossola!« sagte er schließlich und sprach es dabei in der achtunddreißigsten Variante aus. Aus lauter Gefälligkeit unterließ er es zu guter Letzt, mich darauf hinzuweisen, daß die ersten zehn Kilometer der Strecke aufgrund von Gleisbauarbeiten mit dem Bus zurückgelegt werden mußten.
Ich stand auf dem Bahnsteig und wartete. Ich wartete und wartete, aber es kam kein Zug. Seltsamerweise stand außer mir niemand auf dem Bahnsteig. Da es nur wenige Zugverbindungen am Tag nach Domodossola gab, müßten sich doch eigentlich mindestens ein oder zwei andere Fahrgäste einfinden, überlegte ich. Ich wandte mich an einen Gepäckträger, der mir in dieser freundlichen fickdich-dochselbst-Art der Gepäckträger auf allen Bahnhöfen der Welt zu verstehen gab, daß ich mit dem Bus fahren müsse. Als ich ihn mit größtem Druck zwang zu beantworten, wo ich diesen Bus denn finden würde, deutete er mit dem Handrücken vage in die Richtung der restlichen Welt. Ich trat gerade rechtzeitig aus dem Bahnhofsgebäude, um zu sehen, wie sich der Bus nach Domodossola in Bewegung setzte. Glücklicherweise war ich in der Lage, den Busfahrer zu überreden anzuhalten, indem ich mich zweihundert Meter an die Windschutzscheibe klammerte. Ich wollte nur noch weg von hier.
Kurz hinter Locarno stiegen wir in den Zug um, der an einem kleinen, ländlichen Bahnhof bereits auf uns wartete. Er kletterte die zerklüfteten Berge hinauf und führte uns auf seiner spektakulären Fahrt an tiefen Schluchten entlang, über atemberaubende Gebirgspässe, vorbei
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