Wo bitte geht's nach Domodossola
fade anhörte (und es hörte sich nicht nur so an). Zumindest mußte ich nicht den größten Teil in der Serviette verstecken und auch nicht nach dem Essen diesen peinlichen Aufschrei der Enttäuschung über mich ergehen lassen, den alle Kellner ausstoßen, wenn sie feststellen, daß man seinen Teller nicht mal angerührt hat. Das Restaurant selbst war dunkel und schlicht, die Decke von Tabakrauch vergilbt. Dafür war die Kellnerin freundlich, und das Bier vor mir war groß und kühl. Mitten auf dem Tisch befand sich eine gußeiserne Schale, die ich anfangs für einen Aschenbecher hielt, doch dann kam mir der Gedanke, daß es sich ebensogut um eine Art Brotkorb handeln könnte, den die Kellnerin in Kürze füllen würde. Ich warf einen Blick auf die übrigen Tische, um herauszufinden, ob einer der wenigen Gäste die Schale als Aschenbecher benutzte, aber es rauchte niemand. Also drückte ich meinen Zigarettenstummel aus, ließ ihn samt Streichholz in einem Blumentopf auf der Fensterbank verschwinden und versuchte, die Asche wegzupusten, wobei ich sie über die ganze Tischdecke verteilte. Bei dem Versuch, sie mit der Hand wegzuwischen, stieß ich gegen mein Glas und verschüttete das Bier. Als ich damit soweit fertig war, zierten eine Reihe von grauen Flecken auf einem Untergrund von ungleichmäßigem Uringelb die bis dahin blütenweiße 253
Decke. Kurz darauf erschien die Kellnerin, um das Essen zu servieren, und obwohl ich mir die größte Mühe gab, den Schlamassel lässig unter Oberkörper und Ellbogen zu verbergen, sah sie sofort, was ich angerichtet hatte. Sie schenkte mir einen Blick, der nicht, wie ich befürchtet hatte, Geringschätzung zum Ausdruck brachte, sondern – was viel schlimmer war – tiefstes Mitleid verriet. Es war dieser Blick, mit dem man jemanden ansieht, der nach einem Schlaganfall die Kontrolle über die Muskeln seines Mundes verloren hat, aber dennoch tapfer versucht, ohne fremde Hilfe zu essen. Es war ein Blick, der besagte »Ach Gott, der arme Kerl.«
In einer Schrecksekunde glaubte ich, sie würde mir eine Serviette um den Hals binden und mir das Essen kleinschneiden. Doch statt dessen zog sie sich auf ihren Posten hinter der Bar zurück, von wo sie mich keinen Moment mehr aus den Augen ließ, jederzeit bereit, sofort zur Stelle zu sein, sollte mir eine Gabel oder ein Messer aus den Händen gleiten oder sollte ich von einem plötzlichen Anfall geschüttelt hintenüber kippen. Ich war jedenfalls sehr froh, als ich wieder auf der Straße stand. Die gußeiserne Schale war übrigens tatsächlich ein Aschenbecher.
Brig, einst eine Postkutschenstation an der Straße zwischen Zürich und Mailand, erwies sich als eine ziemlich langweilige Stadt. Sie machte irgendwie den Eindruck, als wüßte sie nicht recht etwas mit sich anzufangen. Trotz ihrer ansehnlichen Größe schien es hier kaum Möglichkeiten der Zerstreuung zu geben. Die Auslagen der Geschäfte beschränkten sich auf so uninteressante Dinge wie Kühlschränke, Staubsauger und Fernsehgeräte. Doch dann wurde mir klar, daß in den meisten Ländern uninteressante Dinge in den Schaufenstern liegen. Was mich bedrückte, war einzig und allein die Tatsache, daß ich nicht mehr in Italien war. Und genau das ist das Problem beim Reisen: heute sitzt du vor einer Tasse Cappuccino und schaust übers Meer, und morgen stehst du im Regen in der langweiligsten Stadt der Schweiz und siehst dir Haushaltsgeräte von Zanussi an. Mir fiel auf, daß ich in keinem Schaufenster Italiens einen Kühlschrank, einen Staubsauger oder andere Produkte von rein praktischem Wert gesehen hatte. Ich schätze, sie fahren nicht alle nach Brig, um sich diese Dinge zu kaufen. Sicher haben sie auch in ihrem eigenen Land genug davon; ich konnte mich nur nicht erinnern, dergleichen gesehen zu haben. In Brig gab es dagegen nichts anderes. Ich trottete durch die leeren Straßen und versuchte, mich für Haushaltsgeräte zu begeistern, aber es wollte mir nicht gelingen. Daher zog ich es vor, mich in die Hotelbar zu setzen, ein paar Bier zu trinken und in Philip Zieglers klassischen Aufzeichnungen über den Schwarzen Tod zu lesen – genau das Richtige für einen einsamen, verregneten Abend in einem fremden Land. Die Lektüre war faszinierend, unter anderem weil ich Orte darin wiederfand, die Stationen meiner Reise gewesen waren – wie Florenz, wo innerhalb von vier Monaten 100000 Menschen, die Hälfte der Bevölkerung, der Pest zum Opfer fielen, oder Mailand, dessen
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