Wo Dein Herz Zu Hause Ist
sie die Wahrheit erfahren sollte? Meinst du nicht, dass sie es irgendwo in ihrem Inneren schon weiß?», fragte er.
«Da gibt es nichts zu wissen!», sagte Duncan und stellte ärgerlich sein Glas auf das Tischchen neben sich.
«Heute …»
«Was heute passiert ist, hat damit nichts zu tun.»
«Duncan …»
«Thomas.»
Father Ryan wusste, dass ihn sein Bruder nur Thomas nannte, wenn er etwas wirklich ernst meinte.
«Vielleicht haben ihre Panikattacken nichts damit zu tun, aber vielleicht eben doch – alles was ich weiß, ist, dass am Ende die Wahrheit ans Licht kommen wird», sagte er eindringlich. «Ganz gleich, was geschieht, am Ende kommt die Wahrheit ans Licht.»
Dann machte er sich auf den Weg in sein unangenehm warmes Bett und ließ seinen Bruder mit seinen Gedanken allein.
Duncan trank noch zwei Gläser Whiskey, bevor er in sein Arbeitszimmer in der Mansarde ging und die Schublade öffnete, in der die Kopie der Akte lag, die er vor Jahren das letzte Mal in der Hand gehabt hatte.
Er schlug die Akte auf, und ein Foto fiel heraus. Er hob es auf und hielt es in das Licht der Schreibtischlampe. Das Haar des Mädchens war lang und tiefbraun,ihre weit geöffneten Augen waren dunkelgrün, ihre Haut war blass, fast weiß, und das Rot ihrer Lippen hatte einen bläulichen Ton. Sie war siebzehn Jahre alt, und sie war tot.
10. Mai 1975 Samstag
Heute haben wir endlich den zehnten Mai. Heute ist mein sechzehnter Geburtstag! Ich kann es kaum fassen. Vor sechzehn Jahren hat mich meine Mutter auf die Welt gebracht. Es war ein warmer Frühlingsmorgen im Jahr 1959. Mam hat erzählt, dass Dad fast einen Unfall gebaut hat, als er sie ins Krankenhaus fuhr. Sie meinte, es sei ein Wunder gewesen, dass wir drei die Fahrt überlebten. Er wäre fast an einen Baum und dann an eine Mauer gerast, und anschließend hat er nur knapp einen alten Mann verfehlt. Er hatte sich das Auto seines Chefs geliehen, einen Ford Fairlane, Mam sagte, er war damals kein geübter Fahrer, und dass sie die ganze Zeit gedacht hat: Wie sollen wir jemals dieses teure Auto ersetzen, falls wir den Unfall überleben? Bei der Vorstellung, dass er durch die Stadt raste wie ein Verrückter, während Mam ihm ständig sagte, er solle langsamer fahren, muss ich lachen. Ich kann ihn direkt hören. «Halt durch, Deirdre! Wir sind fast da, meine Süße!» So nannte er sie immer. Und dann sie: «Durchhalten? Ich bin schon froh, wenn wir überhaupt lebend ankommen! Fahr langsam, du Wahnsinniger!» Sie war früher so energisch. Sie hätte sich von Dad nie etwas gefallen lassen. Was ist bloß mit ihr passiert?
Ich bin sechzehn. Das ist richtig komisch. Ich habe gedacht, dass ich bestimmt keine sechzehn würde. Als ich zehn Jahre alt war, kam mir sechzehn ewig weit weg vor, und als Dad starb, war ich davon überzeugt, dass ich auch sterben würde.
Ich weiß nicht warum, aber ich habe lange geglaubt, dass ich jung sterben würde. Das tue ich sogar jetzt manchmal noch, aber jetzt bin ich sechzehn, und das ist schließlich nicht mehr so jung. Nächstes Jahr um diese Zeit bin ich siebzehn, und siebzehn ist praktisch schon alt.
Mam hat ihr Versprechen tatsächlich gehalten. Sie hat gesagt, sie schenkt mir eine Flasche Charlie und eine Kassette von den Bay City Rollers, und das hat sie auch getan. Wunder gibt es immer wieder. Wenn ich darüber nachdenke, hat sie ihre Versprechen eigentlich immer gehalten, bevor
er
aufgetaucht ist, und jetzt, na ja, ich weiß ja, dass es nicht ihr Fehler ist. Sie tut, was sie kann. Ich hatte einen schönen Geburtstag. Zum Tee haben wir Kuchen gegessen. Sheila war da, und wir hatten viel Spaß, obwohl sie ihren dämlichen Dave mitgebracht hat. Immerhin hat er mir einen Blumenstrauß geschenkt. Er hat sie selbst gepflückt, und sie waren ziemlich zerdrückt, aber trotzdem schön. Das hätte er nicht tun müssen. Sogar Sheila war überrascht. Jetzt komme ich mir gemein vor, weil ich ihn für einen Blödmann halte, aber ich tu’s trotzdem.
Er
hat sich nicht blicken lassen, Gott sei Dank. Mam sagt, er hat jetzt schon über eine Woche nicht getrunken. Seitdem ist er ruhiger, kein Türenknallen, kein Geschrei, kein gar nichts. Er kann mir immer noch nicht ins Gesicht sehen, aber das macht mir nichts aus. Soll er doch auf den Boden starren. Soll er doch verrotten.
Heute nach der Schule wollte ich mich an den Pier setzen. Ich sehe unheimlich gern über das Wasser in die Ferne. An klaren Tagen kann man Wales sehen. Na ja, nicht so
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