Wo die Nacht beginnt
der nächsten Tage vollführten Matthew und sein Vater ein Abschiedsritual, das ihnen angesichts der vielen Trennungen, die sie schon hinter sich hatten, bestimmt zutiefst vertraut war. Trotzdem war es diesmal anders. Das nächste Mal würde ein anderer Matthew nach Sept-Tours kommen, einer, der weder seine noch Philippes Zukunft kannte.
»Die Menschen in Saint-Lucien leben schon lange in Gesellschaft von Manjasang«, versicherte mir Philippe auf meine besorgte Frage hin, wie Thomas und Étienne das alles geheim halten sollten. »Wir kommen und gehen. Sie stellen keine Fragen, wir geben keine Erklärungen. So ist es seit jeher.«
Dennoch stellte Matthew sicher, dass Philippe in seine Pläne eingeweiht war. Ich hörte, wie er nach einem morgendlichen Kräftemessen in der Scheune mit seinem Vater redete.
»Bevor wir in unsere eigene Zeit zurückkehren, werde ich dir eine Nachricht zukommen lassen. Du wirst mich nach Schottland schicken, um die Allianz unserer Familie mit König James zu besiegeln. Von dort aus werde ich wohl nach Amsterdam reisen. Die Holländer eröffnen demnächst neue Handelswege nach Osten.«
»Ich komme schon zurecht, Matthew«, versicherte Philippe ihm nachsichtig. »Bis dahin will ich regelmäßig aus England hören, vor allem, wie es dir und Diana ergeht.«
»Gallowglass wird dich über unsere Abenteuer auf dem Laufenden halten«, versprach Matthew.
»Das ist nicht dasselbe, wie von dir selbst zu hören«, sagte Philippe. »Es wird mir schwerfallen, nicht mit meinem Wissen über deine Zukunft zu prahlen, wenn du dich wieder einmal zu wichtig nimmst, Matthew. Aber irgendwie wird mir auch das gelingen.«
Während unserer letzten Tage auf Sept-Tours spielte uns die Zeit dauernd Streiche, indem sie sich erst dahinschleppte, um dann plötzlich und ohne Vorwarnung zu beschleunigen. An Heiligabend ging Matthew mit den meisten aus unserem Haushalt in die Dorfkirche, um die Messe zu hören. Ich blieb im Château und entdeckte Philippe in seiner Schreibstube jenseits des großen Saals. Er schrieb, wie immer, Briefe.
Ich klopfte an. Es war eine reine Förmlichkeit, da er zweifellos meine Schritte gehört hatte, seit ich Matthews Turm verlassen hatte, trotzdem erschien es mir nicht richtig, unaufgefordert in den Raum zu platzen.
» Introite.« Mit diesem Kommando hatte er mich nach unserer Ankunft auf Sept-Tours empfangen, aber seit ich ihn besser kannte, klang es längst nicht mehr so harsch.
»Verzeih die Störung, Philippe.«
»Komm herein, Diana.« Er rieb sich die Augen. »Hat Catrine meine Kästen gefunden?«
»Ja, und die Schale und den Federhalter auch.« Er bestand darauf, dass ich sein schön gearbeitetes Reiseschreibzeug mitnahm. Jedes Stück war aus steifem Leder gefertigt und widerstand Schnee, Regen und Stürzen. »Ich wollte mich bedanken, bevor wir abreisen – und nicht nur für die Hochzeit. Du hast in Matthew etwas Zerbrochenes geheilt.«
Philippe schob seinen Hocker zurück und sah mich nachdenklich an. »Eigentlich sollte ich dir danken, Diana. Die Familie hat mehr als tausend Jahre versucht, Matthews Geist zu heilen. Wenn ich mich recht erinnere, hast du dazu keine vierzig Tage gebraucht.«
»Matthew war nicht immer so«, widersprach ich kopfschüttelnd. »Erst hier bei dir. In ihm lag ein dunkler Fleck, den ich nicht erreichen konnte.«
»Ein Mann wie Matthew befreit sich nie völlig von den Schatten, die ihn verfolgen. Aber vielleicht muss man die Dunkelheit in ihm annehmen, um ihn lieben zu können«, fuhr Philippe fort.
» Weise mich nicht ab, weil ich im Schatten bin und dunkel«, murmelte ich.
»Diesen Spruch kenne ich nicht«, erklärte Philippe stirnrunzelnd.
»Er stammt aus dem alchemistischen Buch, das ich dir gezeigt habe – der Aurora Consurgens. Die Stelle erinnert mich an Matthew, aber ich kann dir immer noch nicht sagen, warum. Irgendwann werde ich es wissen.«
»Du bist wie dieser Ring, weißt du das?« Philippe pochte mit dem Finger auf den Tisch. »Auch das war eine von Ysabeaus klugen Nachrichten.«
»Sie wollte dich wissen lassen, dass sie mit der Ehe einverstanden ist«, sagte ich und strich mit dem Daumen über das tröstliche Gewicht des Ringes.
»Nein. Ysabeau wollte mich wissen lassen, dass sie mit dir einverstanden ist. Du bist beständig wie das Gold, aus dem er gefertigt ist. Du verbirgst viele Geheimnisse, so wie die Bänder des Ringes die Inschriften verbergen. Aber am besten fängt der Stein ein, wer du bist: nach außen hin
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