Wo die Nacht beginnt
Weg.
»Ich suche nicht nach einem Brief. Wir versteckten uns gegenseitig kleine Notizen zwischen den Buchseiten. Als er starb, durchsuchte ich jedes einzelne Werk in der Bibliothek, weil ich alles haben wollte, was mir von ihm geblieben war. Trotzdem muss ich damals etwas übersehen haben.«
»Vielleicht konnten Sie es damals nicht finden, weil es nicht hier war – noch nicht.« Eine trockene Stimme meldete sich aus den Schatten hinter der Tür. Sarah Bishops rotes Haar stand in alle Richtungen ab, und sie war bleich vor Kummer und Schlaflosigkeit. »Marthe bekommt einen Anfall, wenn sie das hier sieht. Nur gut, dass Diana nicht da ist. Sie würde Ihnen eine Lektion über den Umgang mit Büchern erteilen, bei der Sie vor Langeweile sterben würden.« Tabitha, die Sarah auf Schritt und Tritt begleitete, schoss zwischen den Beinen der Hexe hervor.
Jetzt war Ysabeau verwirrt. »Wie meinen Sie das, Sarah?«
»Die Zeit hat ihre Tücken. Selbst wenn alles nach Plan verlief und Diana mit Matthew am ersten November 1590 auftauchte, ist es vielleicht immer noch zu früh, nach einer Nachricht Ihres Mannes zu suchen. Und damals konnten Sie nichts finden, weil Philippe meiner Nichte noch nicht begegnet war.« Sarah holte tief Luft. »Ich glaube, Tabitha will das Buch fressen.«
Tabitha konnte ihr Glück kaum fassen, in einem Haus mit einem unerschöpflichen Nachschub an Mäusen und zahllosen dunklen Ecken zum Verstecken gelandet zu sein, und hatte sich in letzter Zeit angewöhnt, an Möbeln und Vorhängen emporzuklettern. Jetzt hockte sie auf einem der Regale und nagte an der Ecke eines ledergebundenen Bandes.
» Kakó gati!« , schrie Ysabeau auf und eilte an das Regal. »Das ist eines von Dianas Lieblingsbüchern.«
Tabitha, die noch nie vor einer Auseinandersetzung mit einem anderen Raubtier zurückgeschreckt war – wenn man von Miriam einmal absah –, schlug mit einer Pfote nach dem Buch und schickte es auf diese Weise zu Boden. Sie sprang hinterher und thronte über ihrer Beute wie eine Löwin, die einen besonders begehrenswerten Leckerbissen bewacht.
»Es ist eines dieser illustrierten Alchemiebücher«, stellte Sarah fest, nachdem sie das Buch aus den Klauen ihrer Katze befreit und es durchgeblättert hatte. Sie schnupperte daran. »Na, kein Wunder, dass Tabitha einen Narren daran gefressen hat. Es riecht nach Minze und Leder, genau wie ihr Lieblingsspielzeug.«
Ein mehrfach zusammengefalteter Zettel flatterte auf den Boden. Ihrer Beute beraubt, nahm Tabitha das Papier mit spitzen Zähnen auf und stolzierte damit zur Tür.
Dort wartete Ysabeau schon auf sie. Sie hob Tabitha am Nacken hoch und löste das Papier aus dem Maul der Katze. Dann küsste sie die überraschte Tabitha auf die Nase. »Kluges Kätzchen. Du bekommst Fisch zum Abendessen.«
»Ist dies die Nachricht, nach der Sie gesucht haben?« Emily betrachtete das winzige Zettelchen kritisch. Dafür die ganze Bibliothek auseinanderzunehmen, erschien ihr ganz offensichtlich übertrieben.
Ysabeaus Antwort ergab sich aus der Ehrfurcht, mit der sie den Zettel behandelte. Sie öffnete ihn zu einem handtellergroßen Blatt, das auf beiden Seiten mit winzigen Lettern bedeckt war.
»Es ist in einer Art Code beschrieben«, sagte Sarah. Sie setzte die an einer Kordel um ihren Hals hängende Zebrastreifen-Lesebrille auf, um sich die Sache genauer anzusehen.
»Das ist kein Code – das ist Griechisch.« Mit zittrigen Händen strich Ysabeau das Papier glatt.
»Was steht darauf?«, wollte Sarah wissen.
»Sarah!«, schalt Em. »Das ist privat.«
»Es stammt von Philippe. Er hat sie beide gesehen«, hauchte Ysabeau, während ihre Augen den Text verschlangen. Ihre Hand flog an ihren Mund, und es war schwer zu sagen, ob sie eher verblüfft oder erleichtert war.
Sarah wartete ab, bis die Vampirin fertig gelesen hatte. Sie brauchte zwei Minuten und damit neunzig Sekunden länger, als Sarah jedem anderen Zeit gelassen hätte. »Und?«
»Sie waren kurz vor Weihnachten bei ihm. Am Morgen des heiligen Christfestes nahm ich Abschied von unserem Sohn. Endlich hat er sein Glück gefunden, in der Verbindung mit einer Frau, die in den Fußstapfen der Göttin wandelt und seiner Liebe würdig ist , las Ysabeau laut vor.
»Und damit sind wirklich Matthew und Diana gemeint?« Emily fand die Worte eigentümlich gestelzt und unpersönlich für eine Nachricht eines Ehemanns an seine Ehefrau.
»Ja. Matthew war stets der Sohn, um den wir uns am meisten sorgten, obwohl seine
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