Wo die Nacht beginnt
Matthew angelaufen. Das Entsetzen in seinem Gesicht bestätigte meine schlimmsten Befürchtungen.
23
W ir haben alle schon Kinder verloren, Diana«, sagte Goody Alsop traurig. »Diesen Schmerz kennt fast jede Frau.«
»Alle?« Ich sah die in Goody Alsops Stube versammelten Hexen des Zirkels von Garlickhythe der Reihe nach an.
Tatsächlich begannen alle von Totgeburten zu berichten oder von Kindern, die mit sechs Monaten oder sechs Jahren gestorben waren. Ich hatte bis dahin keine Frauen gekannt, die eine Fehlgeburt erlitten hatten – jedenfalls nicht, soweit ich wusste. Hatte eine meiner Freundinnen vielleicht ein Kind verloren, ohne dass ich davon erfahren hatte?
»Ihr seid jung und kräftig«, sagte Susanna. »Es gibt keinen Grund, warum Ihr kein zweites Kind empfangen solltet.«
Gar keinen Grund, abgesehen von der Tatsache, dass mein Gemahl mich nicht mehr anrühren würde, bis wir ins Land der Geburtenkontrolle und Ultraschalluntersuchungen zurückgekehrt waren.
»Vielleicht.« Ich zuckte unentschlossen mit den Achseln.
»Wo ist Master Roydon?«, fragte Goody Alsop leise. Ihr Schatten schwebte durch den Raum, als glaubte sie, sie könnte Matthew hinter den Kissen auf dem Fensterbrett oder auf dem Schrank finden.
»In Geschäften unterwegs«, sagte ich und zog den geborgten Schal fester um den Hals. Er gehörte Susanna und roch genau wie sie nach Karamell und Kamille.
»Ich hörte, er war gestern Abend mit Christopher Marlowe in der Middle Temple Hall. Wo er allem Anschein nach ein Theaterstück sah.« Catherine reichte die Schachtel mit dem mitgebrachten Konfekt an Goody Alsop weiter.
»Gewöhnliche Männer trauern bisweilen schrecklich um ein verlorenes Kind. Es überrascht mich nicht, dass ein Wearh das besonders schwierig findet. Schließlich sind sie sehr besitzergreifend.« Goody Alsop griff nach einem roten Gelatinestück. »Danke, Catherine.«
Die Frauen warteten schweigend ab, ob ich Goody Alsops und Catherines stillschweigender Aufforderung folgen und ihnen erzählen würde, wie es Matthew und mir ging.
»Er wird darüber hinwegkommen«, erklärte ich angespannt.
»Er sollte hier sein«, bemerkte Elizabeth scharf. »Ich sehe nicht ein, warum ihn dieser Verlust schmerzhafter treffen sollte als Euch!«
»Weil Matthew tausend Jahre mit gebrochenem Herzen lebte und ich nur dreiunddreißig«, erwiderte ich genauso scharf. »Er ist ein Wearh , Elizabeth. Ob ich mir wünschte, er wäre bei mir, statt mit Kit unterwegs? Natürlich. Werde ich ihn anflehen, um meinetwillen im Hart and Crown zu bleiben? Auf keinen Fall.« Meine Stimme wurde lauter, denn plötzlich waren mir der Schmerz und Ärger zu viel. Matthew hatte noch in jeder Situation liebevoll und zärtlich reagiert. Er hatte mich getröstet, als ich die zahllosen zerbrechlichen Träume beerdigt hatte, die zusammen mit unserem Kind gestorben waren.
Sorgen machten mir vor allem die Stunden, die er woanders verbrachte.
»Mein Kopf sagt mir, dass Matthew die Möglichkeit bekommen muss, auf seine Weise um sein Kind zu trauern«, sagte ich. »Mein Herz sagt mir, dass er mich liebt, obwohl er zurzeit die Gegenwart seiner Freunde meiner vorzieht. Ich wünschte nur, er könnte mich ohne Trauer berühren.« Ich spürte sie, wenn er mich ansah, wenn er mich hielt, wenn er meine Hand nahm. Und das war unerträglich.
»Es tut mir so leid, Diana«, erklärte Elizabeth zerknirscht.
»Es ist schon gut«, versicherte ich ihr.
Aber das war es nicht. Die ganze Welt war aus den Fugen, nichts passte mehr zusammen, die Farben waren zu grell, und jedes Geräusch war so laut, dass es mich zusammenschrecken ließ. Mein Körper fühlte sich wie ausgehöhlt an, und was ich auch zu lesen versuchte, kein Wort prägte sich mir ein.
»Wir werden Euch morgen wie geplant wiedersehen«, erklärte Goody Alsop knapp, als die Hexen aufbrachen.
»Morgen?« Ich zog die Stirn in Falten. »Ich bin wirklich nicht in der Stimmung für Magie, Goody Alsop.«
»Und ich bin nicht in der Stimmung, mich ins Grab zu legen, ohne dass ich gesehen habe, wie Ihr Euren ersten Spruch webt, darum werde ich Euch pünktlich zum sechsten Glockenschlag erwarten.«
An jenem Abend starte ich ins Feuer, als die Glocken sechs schlugen und sieben und acht und neun und zehn. Als die Glocke dreimal schlug, hörte ich Gepolter auf der Treppe. Weil ich glaubte, es sei Matthew, ging ich zur Tür. Auf der Treppe war niemand, doch auf den Stufen lagen mehrere Objekte: die Socke eines Kleinkinds, ein
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