Wo die Nacht beginnt
dass wir den Jungen anders nicht vom »Elstern«, wie Hancock es nannte, abhalten konnten. Trotz unserer Anstrengungen schaffte es Jack immer noch viel zu oft, etwas zu stibitzen. Matthew hatte ein neues Ritual in unserem Haushalt eingeführt, um das zu unterbinden. Jack musste jeden Abend seine Taschen leeren und uns dann gestehen, wie er an das ungewöhnliche Sortiment an Glitzerkram darin gekommen war. Bislang hatte ihn dieses Ritual kaum beeindruckt.
Mit seinen flinken Fingern konnten wir Jack unmöglich in das nobel eingerichtete Domizil der Countess of Pembroke lassen. Annie und ich verabschiedeten uns von Jack und Pierre, und die Miene des Mädchens hellte sich bei der Aussicht auf einen langen Schwatz mit Marys Magd Joan sowie einige Stunden ohne Jacks unerwünschte Aufmerksamkeit sichtlich auf.
»Diana!«, rief Mary, sobald ich die Schwelle zu ihrem Labor übertreten hatte. Sooft ich es auch betrat, die bunten Wandgemälde, auf denen die Herstellung des Steins der Weisen dargestellt war, verschlugen mir jedes Mal den Atem. »Kommt, ich muss Euch etwas zeigen.«
»Ist es Eure Überraschung?« Mary hatte in letzter Zeit öfter angedeutet, dass sie mich bald mit einem Beweis ihrer alchemistischen Fähigkeiten erfreuen würde.
»Ja«, bestätigte Mary und zog ihr Notizbuch vom Tisch. »Seht her, jetzt haben wir den achtzehnten Januar, und am neunten Dezember habe ich das Werk begonnen. Es hat exakt vierzig Tage gedauert, so wie es die Weisen versprachen.«
Die Vierzig war in der Alchemie eine wichtige Zahl. Ich sah Marys Laboreinträge durch und hoffte, daraus zu erschließen, was genau sie getan hatte. Während der letzten zwei Wochen hatte ich gelernt, Marys Kurzschrift und die Symbole zu entschlüsseln, mit denen sie verschiedene Metalle und Substanzen kennzeichnete. Falls ich die Einträge richtig deutete, hatte sie zu Beginn dieser Prozedur eine Unze Silber in aqua fortis aufgelöst – dem »starken Wasser« oder »Scheidewasser« der Alchemisten, das in der Zukunft als Salpetersäure bekannt werden sollte. Dann hatte Mary destilliertes Wasser hinzugefügt.
»Ist dies Euer Zeichen für Quecksilber?«, fragte ich, auf ein mir unbekanntes Symbol deutend.
»Ja – aber nur für das Quecksilber, das ich aus der besten Quelle in Deutschland beziehe.« Mary scheute keine Kosten, wenn es um ihr Labor, um Chemikalien oder wissenschaftliche Instrumente ging. Sie zerrte mich zu einem weiteren Beweisstück für ihren Willen, nur das Beste für ihr Labor zu kaufen, was es auch kosten mochte: einen riesigen Glaskolben. Er war ohne jede Einschlüsse und rein wie Kristall, und das hieß, dass er aus Venedig stammen musste. Das in Sussex gefertigte englische Glas war mit winzigen Luftbläschen und schwachen Schatten durchsetzt. Die Gräfin bevorzugte venezianische Ware – und konnte sie sich leisten.
Als ich sah, was er enthielt, strich ein warnender Finger über meine Schultern.
Aus einem winzigen Samenkorn am Boden des Kolbens wuchs ein silberner Baum. Aus dem Stamm sprossen Äste, die sich immer weiter verzweigten und das obere Ende des Gefäßes mit silbernen Fäden füllten. Am Ende der Äste saßen winzige Perlen, fast wie Früchte, so als würde der Baum erntereifes Obst tragen.
»Der Arbor Dianae«, verkündete Mary stolz. »Es ist fast, als habe Gott mir eingegeben, ihn herzustellen, damit er Euch willkommen heißen kann. Ich habe schon oft versucht, den Baum wachsen zu lassen, aber nie wollte er Wurzeln schlagen. Niemand könnte weiterhin an der Wahrheit und Macht der Alchemie zweifeln, nachdem er so etwas gesehen hat.«
Dianas Baum war tatsächlich ein atemberaubender Anblick. Er funkelte und wuchs vor meinen Augen, indem er immer neue Zweige sprießen ließ, die den restlichen Platz in dem Gefäß ausfüllten. Ich wusste zwar, dass dies nichts weiter als ein dentritisches Amalgam aus kristallisiertem Silber war, trotzdem war es ein unvergessliches Erlebnis, einen Klumpen Metall wie eine Pflanze wachsen zu sehen.
An der Wand uns gegenüber thronte ein Drache über einem Gefäß, ähnlich jenem, in dem Mary den Arbor Dianae gezüchtet hatte. Der Drache hielt den Schwanz im Mund, und Blut tropfte in die silbrige Flüssigkeit unter ihm. Ich suchte nach dem nächsten Bild in der Serie: dem Hermesvogel, der auf die alchemistische Hochzeit zuflog. Der Vogel erinnerte mich an die Illustration der Hochzeit in Ashmole 782 .
»Ich glaube, es müsste möglich sein, dasselbe Ergebnis noch schneller zu
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