Wo die Nacht beginnt
ihrer Herrin zu bleiben, schwebten sie allesamt nach oben unters Dach und beratschlagten dort aufgeregt, ob die Anwohner in der Newgate Street wohl je wieder Frieden finden würden, nachdem der Geist der Königin Isabella und jener einer Mörderin namens Lady Agnes Hungerford dort ihre Streithändel wieder aufgenommen hatten.
Elizabeth und Catherine beruhigten mich – und übertönten gleichzeitig die grauenvollen Schilderungen von Lady Agnes’ schrecklichen Untaten und Tod –, indem sie mir von ihren frühen magischen Abenteuern erzählten und mich nach meinen Erlebnissen befragten. Elizabeth zeigte sich beeindruckt, als ich berichtete, wie ich das Wasser unter Sarahs Obstgarten herausgezogen und es Tropfen für Tropfen in meine Handflächen gelenkt hatte. Und Catherine jubelte fröhlich, als ich ihr schilderte, wie ich in meinen Händen einen schweren, gespannten Bogen mitsamt Pfeil gespürt hatte, bevor ich das Hexenfeuer losgeschossen hatte.
»Der Mond ist aufgegangen.« Marjories rundes Gesicht leuchtete vor Aufregung. Die Fensterläden waren fest geschlossen, aber keine der anderen Hexen stellte das Gesagte infrage.
»Dann ist es Zeit«, erklärte Elizabeth knapp und geschäftsmäßig.
Jede Hexe ging sämtliche Ecken des Raumes ab, brach in jeder einen Zweig von ihrem Besen und ließ ihn dort liegen. Allerdings waren es keine zufälligen Haufen. Die Hexen ordneten die Zweige so an, dass sie sich überlagerten und ein Pentagramm bildeten, den fünfzackigen Drudenfuß.
Goody Alsop und ich nahmen unsere Position in der Mitte des Kreises ein. Noch war der äußere Ring unsichtbar, aber das würde sich ändern, wenn die übrigen Hexen die ihnen zugewiesenen Plätze einnahmen. Sobald das geschehen war, murmelte Catherine einen Zauberspruch, und eine Feuerspur zog sich von einer Hexe zur nächsten und festigte damit den Kreis.
In der Mitte begannen Kräfte aufzuwallen. Goody Alsop hatte mich gewarnt, dass wir mit dem, was wir heute tun wollten, uralte magische Mächte anriefen. Bald wurde der wogende Energiequell durch etwas ersetzt, das wie tausend Hexenblicke kribbelte und pikste.
»Seht Euch mit Eurem Hexenblick um«, befahl Goody Alsop. »Und sagt mir, was Ihr seht.«
Als sich mein drittes Auge öffnete, rechnete ich halb damit festzustellen, dass die Luft selbst zum Leben erwacht war und jedes Partikel unzählige Möglichkeiten ausstrahlte. Stattdessen war der gesamte Raum mit magischen Strängen durchwoben.
»Fäden«, sagte ich, »so als wäre die ganze Welt ein riesiger Teppich.«
Goody Alsop nickte. »Eine Weberin zu sein bedeutet, mit der Welt verbunden zu sein und sie in Garnen und Farbtönen zu erkennen. Während einige dieser Bänder Eure Magie beflügeln, fesseln andere die Kräfte in Eurem Blut an die vier Elemente und an die großen Mysterien dahinter. Weberinnen lernen, jene Bänder zu lösen, die sie fesseln, und den Rest für sich zu nutzen.«
»Aber ich kann sie gar nicht auseinanderhalten.« Hunderte von Fäden strichen über meine Röcke und mein Mieder.
»Bald werdet Ihr sie ausprobieren, so wie ein Vogel seine Schwingen ausprobiert, und dann werdet Ihr entdecken, welche Geheimnisse sie für Euch bereithalten. Aber zuerst werden wir sie alle abschneiden, damit sie ungebunden zu Euch zurückkehren können. Ich werde die Fäden durchtrennen, und Ihr müsst dabei der Versuchung widerstehen, die Macht um Euch herum ergreifen zu wollen. Weil Ihr eine Weberin seid, werdet ihr alles, was getrennt ist, zusammenfügen wollen. Lasst Eure Gedanken stattdessen frei fließen, entleert Euren Geist. Lasst zu, dass sich die Mächte entfalten, wie es ihnen beliebt.«
Goody Alsop ließ meinen Arm los und webte ihren Spruch aus Lauten, die nichts mit irgendeiner Sprache gemein hatten, die ich kannte, aber dennoch eigentümlich vertraut klangen. Bei jedem Ton sah ich, wie Fäden von mir abfielen, sich zusammenrollten oder sich am Boden kringelten. Ein lautes Brausen erfüllte meine Ohren. Meine Arme folgten dem Lärm wie einem Befehl, erhoben sich und streckten sich, bis ich in der gleichen T-förmigen Position stand, in der Matthew mich auf dem Familiensitz der Bishops aufgestellt hatte, nachdem ich das Wasser unter Sarahs altem Obstgarten gesammelt hatte.
Die magischen Stränge – all jene mächtigen Fäden, die ich nutzen, aber nicht festhalten konnte – krochen wieder auf mich zu, so als wären sie Eisenspäne und ich ein starker Magnet. Schließlich kamen sie in meinen Händen zur Ruhe, und
Weitere Kostenlose Bücher