Wo die Nacht beginnt
Mistelzweig, ein Zettel mit dem Namen eines Mannes darauf. Ich ließ mich auf einer der ausgetretenen Stufen nieder, legte alles in meinen Schoß und zog den Schal fester um meine Schultern.
Ich rätselte immer noch, was diese Opfergaben zu bedeuten hatten und wie sie dorthin gekommen waren, als Matthew wie ein lautloser grauer Schatten die Stufen heraufgeschossen kam. Er blieb abrupt stehen.
»Diana.« Seine grünen Augen wirkten glasig, und sofort wischte er sich mit dem Handrücken über den Mund.
»Wenigstens nimmst du etwas zu dir, wenn du mit Kit unterwegs bist«, sagte ich und stand auf. »Schön zu wissen, dass sich eure Freundschaft nicht nur auf Schauspiele und Schachspiele beschränkt.«
Matthew setzte den Stiefel neben meine Füße. Dann drängte er mich mit dem Knie gegen die Wand, bis ich ihm nicht mehr entkommen konnte. Sein Atem roch süß und leicht metallisch.
»Dafür wirst du dich morgen früh hassen«, erklärte ich ihm ruhig und drehte den Kopf zur Seite. Ich wusste, dass ich nicht fortlaufen durfte, solange seinen Lippen noch der Blutgeschmack anhaftete. »Kit hätte bei dir bleiben sollen, bis du die Drogen abgebaut hast. Haben alle Londoner Opium im Blut?« Auch am Vorabend war Matthew mit Kit losgezogen und völlig berauscht zurückgekehrt.
»Nicht alle«, schnurrte Matthew, »aber das bekommt man am schnellsten.«
»Was hat das hier zu bedeuten?« Ich streckte ihm die Socke, den Zweig und den Zettel hin.
»Die sind für dich«, sagte Matthew. »Die kommen jede Nacht. Sonst sammeln Pierre und ich sie immer ein, bevor du morgens aufwachst.«
»Wann hat das angefangen?« Ich hatte Angst, genauer zu fragen.
»Eine Woche bevor – in der Woche, in der du der Rede vorgestellt wurdest. Die meisten sind Bitten um Hilfe. Seit du – seit Montag kommen auch Geschenke für dich.« Matthew streckte die Hand aus. »Ich werde mich darum kümmern.«
Ich presste die Hand auf mein Herz. »Wo sind die übrigen?«
Matthews Mund wurde schmal, aber er zeigte mir, wo er sie aufbewahrte – in einer Kiste auf dem Speicher, die er unter eine Bank geschoben hatte. Ich wühlte in den Gaben, die irgendwie dem ähnelten, was Jack allabendlich aus seinen Taschen zog: Knöpfe, Bänder, eine Tellerscherbe. Dazu kamen Haarlocken und zahllose Zettel mit verschiedenen Namen. Im Gegensatz zu den meisten Betrachtern konnte ich auch die faserigen Fäden sehen, die von jedem Gegenstand ausgingen und darauf warteten, abgelöst, verflochten oder auf andere Weise repariert zu werden.
»Dies sind lauter Bitten um einen Zauber.« Ich sah Matthew an. »Die hättest du nicht vor mir verstecken dürfen.«
»Ich will nicht, dass du für jede Kreatur in ganz London Zaubersprüche ersinnst.« Matthews Blick wurde dunkel.
»Und ich will nicht, dass du jede Nacht deinen Blutdurst stillst und dann mit deinen Freunden trinken gehst! Aber du bist ein Vampir, darum musst du manchmal genau das tun«, gab ich zurück. »Ich bin eine Hexe, Matthew. Mit derlei Bitten darf man nicht leichtfertig umgehen. Meine Sicherheit hängt auch von meiner Beziehung zu unseren Nachbarn ab. Ich kann nicht wie Gallowglass Boote stehlen oder wildfremde Leute anknurren.«
»Milord.« Pierre stand am anderen Ende des Speichers, von wo eine schmale Treppe zu einem geheimen Ausgang hinter den riesigen Bottichen der Wäscherei führte.
»Was ist?«, fragte Matthew unwirsch.
»Agnes Sampson ist tot.« Pierre wirkte verängstigt. »Sie haben sie am Samstag in Edinburgh auf den Castlehill gebracht, sie garottiert und dann den Leichnam verbrannt.«
»Jesus.« Matthew erbleichte.
»Hancock meint, sie sei schon tot gewesen, bevor der Scheiterhaufen entzündet wurde. Sie kann nichts mehr gespürt haben«, fuhr Pierre fort. Selbst diese kleine Gnade wurde vielen verurteilten Hexen verweigert. »Man weigerte sich, Euren Brief zu lesen, Milord. Hancock bekam erklärt, er solle die schottische Politik dem schottischen König überlassen, sonst würde man ihm Daumenschrauben ansetzen, wenn er sich das nächste Mal in Edinburgh zeigte.«
»Warum kann ich nichts dagegen unternehmen?«, brach es aus Matthew heraus.
»Es hat dich also nicht nur das verlorene Baby zu Kit und in die Dunkelheit getrieben. Du versuchst dich auch vor dem zu verstecken, was in Schottland passiert.«
»Offenbar kann ich dieses verfluchte Muster nicht durchbrechen, sosehr ich mich auch bemühe, etwas zu ändern«, sagte Matthew. »Früher, als Spion der Königin, habe ich den Aufruhr in
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