Wo die Nacht beginnt
stand zu befürchten, dass ich nach meiner Rückkehr ins einundzwanzigste Jahrhundert den ersten Historiker, der meinen Weg kreuzte, aus blanker Wut erwürgen würde.
Trotzdem war es so faszinierend, die Einzelheiten des Alltagslebens zu ergründen, dass mein Ärger schnell wieder verflog. Ich betrachtete der Reihe nach die Münzen in meiner Hand und suchte nach einem Silverpenny. Auf diesem Eckstein gründete mein gesamtes mangelhaftes Finanzwissen. Die Münze war nicht größer als mein Daumennagel, papierdünn und wie fast alle anderen mit einem Porträt von Königin Elisabeth geprägt. Anschließend sortierte ich die übrigen Münzen ihrem Wert nach und begann sie auf der nächsten unbeschriebenen Seite in meinem Buch aufzulisten.
»Danke, Pierre«, murmelte Matthew, ohne aufzusehen, als sein Diener die versiegelten Schreiben mitnahm und dafür neue Briefe auf seinem Schreibtisch ablegte.
Wir arbeiteten in einvernehmlichem Schweigen. Nachdem ich meine Münzliste erstellt hatte, versuchte ich mir ins Gedächtnis zu rufen, was Charles, der lakonische Koch in der Lodge, mich über die Herstellung eines Caudle gelehrt hatte – oder war es das Rezept für einen Posset gewesen?
Ein Caudle gegen Kopfschmerzen
Ich war mit der relativ geraden Zeile zufrieden, die nur durch drei kleine Tintenkleckse und das wacklige C verunziert wurde, und fuhr fort.
Man bringe Wasser zum Sieden. Schlage zwei Eigelb. Gebe weißen Wein hinzu und schlage weiter. Wenn das Wasser kocht, soll man es abkühlen lassen und dann Wein und Ei hinzugeben. Man erwärme es wieder unter Rühren und gebe Safran und Honig hinein.
Herausgekommen war ein widerwärtiges, knallgelbes Gebräu, das Tom, den immer wieder Kopfschmerzen plagten, klaglos getrunken hatte. Als ich Charles später nach dem richtigen Verhältnis von Honig und Wein gefragt hatte, hatte er angesichts meiner Ahnungslosigkeit nur die Hände in die Luft geworfen und sich dann wortlos abgewandt.
Insgeheim hatte ich mir als Historikerin immer gewünscht, einmal in der Vergangenheit zu leben, aber das stellte sich als weitaus schwieriger heraus, als ich gedacht hatte. Ich seufzte.
»Du wirst mehr als dieses eine Buch brauchen, damit du dich hier zu Hause fühlst.« Matthew sah nicht von seinem Schreiben auf. »Außerdem solltest du ein eigenes Zimmer haben. Warum nimmst du nicht das hier? Es ist hell genug, um dir als Bibliothek zu dienen. Du könntest dir auch ein alchemistisches Labor einrichten – obwohl du dir vielleicht lieber einen abgeschiedeneren Raum suchen solltest, wenn du Blei zu Gold machen möchtest. Dafür könnte ich dir eine Kammer hinter der Küche empfehlen.«
»Die Küche ist vielleicht nicht so gut. Charles mag mich nicht besonders«, erwiderte ich.
»Charles mag niemanden. Genau wie Françoise – abgesehen von Charles natürlich, den sie trotz seiner Liebe zum Alkohol als verkannten Heiligen verehrt.«
Schwere Schritte kamen über den Flur gestapft, dann stand Françoise missbilligend an der Schwelle. »Hier sind ein paar Männer, die Mistress Roydon sprechen möchten.« Sie trat zur Seite und gab den Blick auf einen grauhaarigen Alten mit schwieligen Händen sowie einen weit jüngeren Mann frei, der nervös von einem Fuß auf den anderen trat. Beide waren gewöhnliche Menschen.
»Somers.« Matthew legte die Stirn in Falten. »Und ist das der junge Joseph Bidwell?!«
»Aye, Master Roydon.« Der Jüngere zog die Mütze.
»Mistress Roydon wird Euch jetzt gestatten, Maß zu nehmen«, sagte Françoise.
»Maß zu nehmen?« Der Blick, den Matthew mir und Françoise zuwarf, verlangte nach einer Antwort – und zwar auf der Stelle.
»Für Schuhe. Handschuhe. Madames Garderobe«, erklärte Françoise. Im Gegensatz zu Unterröcken gab es Schuhe nicht in einer Standardgröße.
»Ich habe Françoise gebeten, sie holen zu lassen«, ergänzte ich und hoffte dabei auf Matthews Einverständnis. Somers’ Augen wurden groß, als er meinen merkwürdigen Akzent hörte, doch im nächsten Moment verschloss sich seine Miene wieder in gleichgültiger Ehrerbietung.
»Meine Gemahlin hat eine unerwartet schwere Reise hinter sich«, antwortete Matthew rasch und stellte sich neben mich, »auf der all ihre Habseligkeiten verlorengingen. Bedauerlicherweise, Bidwell, haben wir keine Schuhe mehr, die Ihr kopieren könntet.« Er legte warnend die Hand auf meine Schulter, um alle weiteren Kommentare zu unterbinden.
»Darf ich, Mistress Roydon?«, fragte Bidwell und ging in die Knie,
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