Wo die Nacht beginnt
Informationen vollzustopfen und deinen Text einzuüben. Du hättest mich fragen sollen, bevor du Bidwell und Somers herbestellt hast.«
»Wie schaffst du es nur, immer wieder vorzugeben, jemand Neues, jemand anderes zu sein?«, rätselte ich. Im Lauf der Jahrhunderte hatte Matthew das zahllose Male durchexerziert, wenn er seinen Tod vorgetäuscht hatte, um wenig später in einem anderen Land wiederaufzuerstehen, eine andere Sprache zu sprechen und einen neuen Namen anzunehmen.
»Vor allem musst du aufhören, dich zu verstellen.« Offenbar hatte man mir die Verwirrung ansehen können. »Ruf dir ins Gedächtnis, was ich dir in Oxford erklärt habe. Du kannst keine Lüge leben, gleichgültig, ob du dich als Mensch ausgibst, während du in Wahrheit eine Hexe bist, oder ob du als elisabethanische Edelfrau durchzugehen versuchst, während du eigentlich aus dem 21. Jahrhundert stammst. Dies ist bis auf Weiteres dein Leben. Du musst versuchen, es nicht als Rolle zu verstehen.«
»Aber mein Akzent, mein Gang …« Selbst mir war aufgefallen, wie sich meine Schritte von denen der anderen Frauen im Haus unterschieden, und Kits unverhohlene Witze über meinen männlichen Tritt hatten ein Übriges getan.
»Du wirst dich schon noch einfügen. Bis dahin wird man über dich reden. Aber die Meinung der Leute in Woodstock braucht dich nicht zu interessieren. Bald wird man dich hier kennen, und dann wird auch der Klatsch verstummen.«
Ich sah ihn zweifelnd an. »Du verstehst nicht viel von Klatsch, oder?«
»Genug, um zu wissen, dass du zurzeit eine Attraktion bist.« Sein Blick fiel auf mein Buch, auf die Kleckse und die zittrigen Buchstaben. »Du hältst den Federkiel zu fest. So bricht immer wieder die Spitze ab, und die Tinte kann nicht fließen. Und genauso fest umklammerst du dein neues Leben.«
»Ich hätte nie gedacht, dass es so schwierig sein würde.«
»Du lernst schnell, und solange du in der Old Lodge bist, bist du unter Freunden. Aber vorerst keine weiteren Besuche. Also erzähl, was hast du da geschrieben?«
»Hauptsächlich meinen Namen.«
Matthew blätterte in meinem Buch und begutachtete, was ich aufgezeichnet hatte. Eine Braue wanderte nach oben. »Du hast dich also auf dein Finanz- und Hauswirtschaftsexamen vorbereitet. Warum schreibst du nicht stattdessen über das, was sich hier im Haus abspielt?«
»Weil ich mich im 16. Jahrhundert zurechtfinden muss. Andererseits könnte ein Tagebuch auch ganz nützlich sein.« Ich überlegte. Auf jeden Fall würde es mir helfen, mein noch konfuses Zeitgefühl zu ordnen. »Die Namen dürfte ich natürlich nicht ausschreiben. 1590 beschränkten sich die Menschen auf Initialen, um Papier und Tinte zu sparen. Und niemand wäre damals auf die Idee gekommen, seine Gedanken oder Gefühle niederzuschreiben. Stattdessen zeichnete man das Wetter oder die Mondphasen auf.«
»Eine Eins mit Stern für das Thema Tagebücher im England des 16. Jahrhunderts«, kommentierte Matthew lachend.
»Schreiben Frauen über die gleichen Dinge wie Männer?«
Er legte die Finger um mein Kinn. »Du bist unmöglich. Hör auf, dir Gedanken darüber zu machen, was andere Frauen tun. Bleib so außergewöhnlich, wie du bist.« Ich nickte, und er gab mir einen Kuss, um dann an seinen Tisch zurückzukehren.
Den Federkiel so locker wie möglich in der Hand haltend, schlug ich eine neue Seite auf. Ich beschloss, die Wochentage mit astrologischen Symbolen zu kennzeichnen und ein paar kryptische Bemerkungen über das Leben in der Old Lodge unter meine Wetterbeobachtungen zu mischen. Auf diese Weise würde niemand, der sie in der Zukunft las, sie ungewöhnlich finden. Hoffentlich.
31. Oktober 1590 Regen, aufklarend.
An diesem Tage wurde ich CM, dem engen Freunde meines Gemahls vorgestellt.
1. November 1590 kalt und trocken
In den frühen Morgenstunden machte ich die Bekanntschaft mit GC. Nach Sonnenaufgang erschienen JH, HP, WR, allesamt Freunde meines Gemahls. Der Mond war voll.
Ein paar zukünftige Gelehrte würden vielleicht vermuten, dass diese Initialen auf Mitglieder der Schule der Nacht verwiesen, vor allem nachdem auf der ersten Seite der Name Roydon stand, aber das würde niemand beweisen können. Außerdem interessierten sich in der Moderne nur wenige Gelehrte für diese Gruppe von Intellektuellen. Dabei hatten die Mitglieder der Schule der Nacht die beste Renaissance-Ausbildung genossen und wechselten in erschreckendem Tempo zwischen antiken und modernen Sprachen hin und her. Jeder von
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