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Wo die Nacht beginnt

Wo die Nacht beginnt

Titel: Wo die Nacht beginnt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Deborah Harkness
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ihnen kannte Aristoteles’ Werke auswendig. Und wenn Kit, Walter und Matthew über Politik zu diskutieren begannen, bewiesen sie ein so umfassendes historisches und geographisches Wissen, dass praktisch niemand mithalten konnte. George oder Tom schafften es hin und wieder, einen Einwand vorzubringen, aber der stotternde und schwerhörige Henry konnte an diesen verwickelten Diskussionen unmöglich teilnehmen. Er beschränkte sich meist darauf, die anderen schweigend zu beobachten, und zeigte dabei eine schüchterne Ehrerbietung, die geradezu rührend wirkte, denn immerhin hatte der Earl von allen Anwesenden den höchsten Stand. Wenn nicht allzu viele an diesen Diskussionen teilnahmen, konnte ich ihnen zeitweise ebenfalls folgen.
    Matthew hatte alles abgestreift, was an den nachdenklichen Wissenschaftler erinnerte, der über Testergebnissen brütete und sich Sorgen um die Zukunft seiner Spezies machte. Ich hatte mich zuerst in jenen Matthew verliebt und verliebte mich nun unversehens ein weiteres Mal in den Renaissancemenschen, der mich immer wieder mit seinem lauten Lachen und seinen klugen Einwürfen betörte, sobald ein Wortgefecht um irgendeine philosophische Spitzfindigkeit ausbrach. Dieser Matthew erzählte Witze beim Essen und summte im Flur vor sich hin. Er raufte vor dem Kamin im Schlafzimmer mit seinen Hunden – zwei riesigen, zotteligen Mastiffs namens Anaximander und Pericles. Im Oxford oder Frankreich des 21. Jahrhunderts hatte Matthew immer leicht melancholisch gewirkt. Hier in Woodstock war er einfach nur glücklich, auch wenn ich ihn hin und wieder dabei ertappte, wie er seine Freunde ansah, als könnte er nicht glauben, dass sie wirklich da waren.
    »Hast du überhaupt gemerkt, wie sehr du sie vermisst hast?«, fragte ich, auch wenn ich wusste, dass ich ihn damit aus der Arbeit riss.
    »Wir Vampire können nicht allen nachtrauern, die wir zurücklassen«, erwiderte er. »Daran würden wir zerbrechen. In diesem Fall hatte ich viel, das mich an sie erinnerte: Zitate und Porträts. Das ist nicht immer so. Trotzdem vergisst man die kleinen Dinge – einen speziellen Ausdruck, den Klang ihres Lachens.«
    »Mein Vater hatte immer Karamellbonbons in der Hemdtasche«, flüsterte ich. »Die hatte ich bis La Pierre völlig vergessen.« Wenn ich die Augen schloss, konnte ich immer noch die winzigen Bonbons riechen und das Zellophan unter dem weichen, glänzenden Baumwollstoff rascheln hören.
    »Und jetzt würdest du dieses Wissen um nichts in der Welt aufgeben wollen«, sagte Matthew liebevoll, »selbst wenn das deine Schmerzen lindern würde.«
    Er griff nach dem nächsten Brief und schabte mit dem Federkiel über die Seite. Sein Gesicht verschloss sich wieder in voller Konzentration, und über seiner Nasenwurzel bildete sich die vertraute kleine Falte. Ich imitierte den Winkel, in dem er die Feder hielt, und wartete genauso lange ab wie er, bevor ich sie wieder in die Tinte tauchte. Es schrieb sich tatsächlich leichter, wenn man den Kiel nicht mit aller Kraft festhielt. Ich setzte die Spitze aufs Papier und machte mich bereit, weiterzuschreiben.
    Heute war das Allerseelenfest, jener Tag, an dem man traditionell der Toten gedachte. Alle im Haus hatten sich schon über die dicke Frostschicht ausgelassen, die sämtliche Blätter im Garten überzog. Morgen würde es noch kälter, hatte Pierre gewarnt.
    2. November 1590 Frost
    Maße für Schuhe und Handschuhe genommen. Françoise näht.
    Françoise würde mir einen Umhang und dazu warme Kleider gegen das nahende Winterwetter schneidern. Den ganzen Morgen hatte sie auf dem Speicher in Louisa de Clermonts zurückgelassener Garderobe gewühlt. Die Kleider von Matthews Schwester waren mit ihren viereckigen Krägen und Glockenärmeln vielleicht vor sechzig Jahren modern gewesen, aber Françoise würde sie so abändern, dass sie einerseits meiner nicht ganz so statuenhaften Gestalt und andererseits dem entsprachen, was George und Walter zufolge die Mode inzwischen gebot. Dass sie die Nähte eines besonders eleganten schwarz-silbernen Gewandes auftrennen musste, hatte Françoise gar nicht behagt, aber Matthew hatte darauf bestanden. Solange die Schule der Nacht in unserem Haus logierte, brauchte ich neben einigen praktischen Gewändern auch etwas Festliches.
    »Aber Lady Louisa hat in diesem Kleid geheiratet, Mylord«, protestierte Françoise.
    »Ja, und zwar einen fünfundachtzigjährigen Greis ohne lebende Nachfahren, dafür aber mit angegriffenem Herzen und mehreren

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