Wo die Nacht beginnt
bis seine Finger über den Bändern schwebten, die ein Paar viel zu großer Männerschuhe an meinen Füßen hielten. Die geliehene Fußbekleidung verriet sofort, dass ich nicht die war, die ich zu sein vorgab.
»Bitte«, antwortete Matthew, bevor ich reagieren konnte. Françoise sah mich mitfühlend an. Sie wusste, wie unangenehm es war, wenn man Matthew Roydons Missbilligung erregt hatte.
Der junge Mann schreckte kurz zurück, als er meinen warmen Fuß und den schnellen Puls spürte. Ganz eindeutig hatte er damit gerechnet, etwas Kälteres, weniger Lebendiges zu berühren.
»An die Arbeit«, befahl Matthew scharf.
»Sir. Mylord. Master Roydon.« Der junge Mann blökte alle Titel heraus, die ihm nur einfielen. Es fehlten nur noch »Eure Majestät« und »Fürst der Finsternis«. Allerdings waren selbst die durchzuhören.
»Wo ist Euer Vater, Bursche?« Sofort klang Matthew weniger streng.
»Er liegt seit vier Tagen krank im Bett, Master Roydon.« Bidwell zog ein Stück Filz aus einem Beutel an seinem Gürtel, stellte meinen Fuß darauf und fuhr die Umrisse mit Holzkohle nach. Er notierte ein paar Angaben auf dem Filz und gab gleich darauf meinen Fuß wieder frei. Das Buch, das er als Nächstes herauszog und mir unter die Nase hielt, bestand aus farbigen Lederstückchen, die mit Lederbändern zusammengenäht waren.
»Welche Farben sind hier besonders beliebt, Master Bidwell?«, fragte ich und reichte ihm das Musterbuch zurück. Ich wollte nicht raten, sondern beraten werden.
»Die Damen am Hofe tragen zur Zeit am liebsten Weiß, gepunzt mit Silber oder Gold.«
»Wir sind hier nicht am Hof«, bemerkte Matthew sofort.
»In diesem Fall Schwarz oder ein hübsches Hellbraun.« Bidwell hielt mir zur Prüfung ein karamellfarbenenes Lederstück unter die Nase. Bevor ich auch nur einen Ton sagen konnte, hatte Matthew es für gut befunden.
Dann kam der ältere Mann an die Reihe. Auch er sah überrascht auf, als er meine Hand nahm und die Schwielen in meiner Handfläche spürte. Damen von Stand, die Männer wie Matthew heirateten, ruderten nicht. Als Nächstes bemerkte Somers die Verhärtung an meinem Mittelfinger. Und feine Damen bekamen auch keine Hornhaut, weil sie ihre Stifte zu fest fassten. Er schob einen viel zu großen, butterweichen Handschuh über meine Rechte. Dann stach er eine Nadel mit grobem Garn in den Saum.
»Hat Euer Vater alles, was er braucht, Bidwell?«, fragte Matthew den Schuhmacher.
»Ja, danke, Master Roydon«, erwiderte Bidwell unter eifrigem Nicken.
»Charles wird ihm Soße und Wildbret schicken.« Matthews Blick huschte über den schmächtigen Körper des jungen Mannes. »Und dazu etwas Wein.«
»Master Bidwell wird Euch Eure Güte danken«, sagte Somers und zog dabei das Garn durch das Leder, bis sich der Handschuh an meine Haut schmiegte.
»Ist sonst noch jemand krank?«, fragte Matthew.
»Rafe Meadows Mädchen lag mit einem schrecklichen Fieber darnieder. Und um den alten Edward fürchteten wir, aber den plagte nur ein Schüttelfrost«, erwiderte Somers angespannt.
»Ich nehme an, Meadows Tochter hat sich erholt.«
»Nein.« Somers schnitt das Garn ab. »Vor drei Tagen wurde sie zu Grabe getragen. Gott sei ihrer Seele gnädig.«
»Amen«, erwiderten alle im Raum. Françoise zog die Brauen hoch und nickte kurz zu Somers hin. Verspätet stimmte ich mit ein.
Nachdem die beiden Männer Maß genommen und versprochen hatten, Schuhe und Handschuhe noch in dieser Woche zu liefern, verbeugten sie sich und gingen. Françoise wollte mit ihnen den Raum verlassen, aber Matthew hielt sie zurück.
»Keine weiteren Besuche für Diana.« Es war ihm ernst, das war nicht zu überhören. »Und sorge dafür, dass eine Heilerin nach Edward Camberwell sieht und dass er genug zu essen und zu trinken hat.«
Françoise knickste schweigend und zog sich unter einem letzten mitfühlenden Blick zurück.
»Ich fürchte, die Männer aus dem Dorf ahnen, dass ich nicht hierhergehöre.« Zittrig strich ich mir über die Stirn. »Die Vokale sind das Problem. Und am Satzende senke ich die Stimme, statt sie anzuheben. Und wann erwartet man hier ein ›Amen‹? Jemand muss mir beibringen, wie man betet, Matthew. Ich muss irgendwo anfangen, und …«
»Nicht so hastig«, sagte er und schob die Hand um meine Taille. Selbst durch mehrere Stoffschichten hindurch beruhigte mich seine Berührung. »Das hier ist keine Examensprüfung, und du stehst auch nicht auf der Theaterbühne. Es wird nicht genügen, dich mit
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