Wo die Nacht beginnt
Fremde mich mit diesem Namen ansprachen, war mir das peinlich, aber ihn aus Matthews Mund zu hören war unerträglich. »Jack hat mir versichert, dass der Eintopf heute Abend besonders gut sein soll.«
Den ganzen Abend blieb Matthew mir gegenüber unterkühlt und beobachtete mich unter schweren Lidern hervor, während ich mir anhörte, wie die Kinder ihren Tag verbracht hatten, und Pierre uns berichtete, was in Prag alles passiert war. Weil mir die Namen nichts sagten und die Handlung so verwickelt war, dass ich schon bald nicht mehr folgen konnte, ging ich zu Bett.
Jacks Schreie rissen mich aus dem Schlaf, doch als ich zu ihm lief, war Matthew schon bei ihm. Der Junge schlug wild um sich und schrie um Hilfe.
»Meine Knochen fliegen weg!«, sagte er immer wieder. »Das tut so weh! Das tut so weh!«
Matthew presste ihn an seine Brust, bis er sich nicht mehr rühren konnte. »Psst. Ich halte dich fest.« Er drückte den Jungen, bis nur noch ein leises Zittern durch die dünnen Glieder des Kindes ging.
»Heute Abend haben die Monster ausgesehen wie ganz gewöhnliche Menschen, Master Roydon«, erklärte Jack ihm und kuschelte sich tiefer in die Arme meines Mannes. Er klang erschöpft, und unter seinen Augen lagen tiefe Ringe, die ihn viel älter aussehen ließen.
»Das tun sie oft, Jack«, sagte Matthew. »Das tun sie oft.«
Während der nächsten Wochen jagte ein Termin den nächsten – beim kaiserlichen Juwelier, beim kaiserlichen Instrumentenbauer, beim kaiserlichen Tanzmeister. Jede Verabredung führte mich tiefer in das enge Gewirr von Bauten, aus denen sich der Kaiserpalast zusammensetzte, und hinein in die Werk- und Wohnstätten, die Rudolfs Hofkünstlern und Hofgelehrten vorbehalten waren.
Zwischen den Besuchen führte Gallowglass mich durch Teile der Burg, die ich noch nicht kannte – in die Menagerie, in der Rudolf seine Leoparden und Löwen hielt, so wie er in den schmalen Straßen östlich des Veitsdomes seine Miniaturenmaler und Musiker hielt, in den Hirschgraben, der erweitert worden war, damit Rudolf besser darin jagen konnte, in die mit Fresken verzierte Turnierhalle, wo sich die Höflinge ertüchtigen konnten, in die neuen Treibhäuser, die man errichtet hatte, um die kostbaren kaiserlichen Feigenbäume vor dem harten böhmischen Winter zu bewahren.
Einen Ort gab es allerdings, zu dem selbst Gallowglass keinen Zutritt hatte: den Pulverturm, wo Edward Kelley mit Destillierkolben und Schmelztiegeln hantierte, um den Stein der Weisen herzustellen. Wir standen vor dem Tor und redeten mit Engelszungen auf die Wachen ein, uns hineinzulassen. Gallowglass versuchte es sogar mit einem gebrüllten Gruß an Kelley. Daraufhin kamen zwar die Nachbarn angelaufen, um festzustellen, ob es irgendwo brannte, aber Dr. Dees einstiger Assistent ließ sich nicht am Fenster blicken.
»Fast als wäre er ein Gefangener«, sagte ich zu Matthew, nachdem das Geschirr vom Abendessen abgeräumt war und Jack und Annie sicher in ihren Betten lagen. Sie waren den ganzen Tag Schlittschuh gelaufen und Schlitten gefahren und hatten Brezeln gegessen. Wir hatten aufgehört, so zu tun, als wären sie unsere Bediensteten. Ich hoffte, Jack würde irgendwann seine Albträume abschütteln können, wenn er sich wie ein normaler Achtjähriger benehmen durfte. Aber die Burg war kein Ort für Kinder. Ich hatte zu viel Angst, dass sie sich verlaufen und nie wieder heimfinden könnten, weil sie den Menschen nicht erklären konnten, wohin sie gehörten.
»Kelley ist ein Gefangener«, bestätigte Matthew und spielte mit dem Stiel seines Weinkelchs. Er war aus schwerem Silber und funkelte im Flammenschein.
»Man hört, dass er manchmal heimgeht, gewöhnlich mitten in der Nacht, wenn ihn niemand sieht. Wenigstens kann er sich hin und wieder den ständigen Forderungen des Kaisers entziehen.«
»Du kennst Mistress Kelley nicht«, kommentierte Matthew trocken.
Ich kannte sie tatsächlich nicht, und das fand ich bei längerem Nachdenken eigenartig. Vielleicht musste ich einen anderen Weg einschlagen, wenn ich den Alchemisten treffen wollte. Ich hatte mich vom höfischen Leben treiben lassen, weil ich gehofft hatte, dass mich die Strömung irgendwann an Kelleys Labortür spülen würde, sodass ich einfach hineinspazieren und nach Ashmole 782 fragen konnte. Aber seit ich mich besser mit den Gebräuchen am Hof auskannte, erschien mir ein so direkter Ansatz wenig erfolgversprechend.
Am nächsten Morgen ging ich absichtlich mit Tereza zum
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