Wo die Nacht beginnt
Flecken und Brandmale, die sie sich bei der Arbeit zugezogen hatten, und die meisten von ihnen wirkten redlich erschöpft. Nachdem mein Blick über die Gemeinde gewandert war, sah ich nach oben, um Größe und Baustil der Kathedrale zu erfassen.
»Das sind jede Menge Bögen«, stellte ich fest. Die Rippung war wesentlich kunstvoller als bei den meisten gotischen Kirchen in England.
»So sieht es aus, wenn sich Matthew etwas in den Kopf setzt«, stellte Gallowglass fest.
»Matthew?« Ich sah ihn mit großen Augen an.
»Er war vor etlichen Jahren schon einmal in Prag, und Peter Parler, der neue Architekt, war viel zu unbedarft für einen so wichtigen Auftrag. Man hatte ihn eigentlich nur beauftragt, weil während der ersten Pestepidemie die meisten Steinmetzmeister gestorben waren. Matthew nahm Parler unter seine Fittiche, und gemeinsam trieben die beiden die Gotik auf die Spitze. Ich kann nicht behaupten, dass ich je verstanden hätte, was er und der junge Peter vollbringen wollten, aber es ist auf jeden Fall beeindruckend. Warte ab, bis du siehst, was sie im Großen Saal angestellt haben.«
Gerade als ich Luft geholt hatte, um die nächste Frage zu stellen, wurde es still in der Kathedrale. Rudolf war eingetroffen. Ich reckte den Hals, in der Hoffnung, ihn zu sehen.
»Da oben«, murmelte Gallowglass und deutete mit dem Kopf nach rechts oben. Rudolf hatte den Veitsdom über die Empore betreten, über die geschlossene Brücke, die mir draußen aufgefallen war und die den Hof zwischen dem Palast und der Kirche überspannte. Der Balkon, auf dem er stand, war mit Wappenschilden verziert, die seine vielen Titel und Ehrentitel symbolisierten. Genau wie das Kirchendach wurde der Balkon von kunstvollen Streben gehalten, die in diesem Fall allerdings an die knorrigen Äste eines riesigen Baumes erinnerten. Wo alle anderen Stützen in der Kirche von atemberaubender Schlichtheit waren, hatte Matthew diesen Balkon bestimmt nicht entworfen.
Rudolf nahm seinen Platz mit Blick über das Mittelschiff ein, während die Menge sich in Richtung der kaiserlichen Loge verbeugte und knickste. Rudolf selbst schien es unangenehm zu sein, dass man ihn überhaupt bemerkt hatte. In seinen Privatgemächern und unter seinen Höflingen wirkte er völlig gelöst, hier hingegen schüchtern und reserviert. Er drehte sich halb zu einem flüsternden Diener um und entdeckte mich dabei. Lächelnd neigte er das Haupt. Die Menge drehte die Köpfe, um festzustellen, wen der König mit seiner Huld bedacht hatte.
»Knicksen«, zischte Gallowglass. Ich sackte gehorsam nach unten.
Wir brachten die Messe ohne weitere Zwischenfälle hinter uns. Zu meiner Erleichterung würde niemand, nicht einmal der Kaiser, das Abendmahl einnehmen, und so war die ganze Zeremonie bald überstanden. Irgendwann zog sich Rudolf ohne großes Aufsehen in seine Privatgemächer zurück, zweifellos, um weiter in seinen Schätzen zu wühlen.
Nachdem der Kaiser und die Priester gegangen waren, wurde es im Kirchenschiff laut und fröhlich, denn überall wurden Neuigkeiten und Klatsch ausgetauscht. Im Hintergrund sah ich Ottavio Strada im Gespräch mit einem rotgesichtigen Mann in teuren Wollgewändern stehen. Dr. Hájek war auch da und plauderte lachend mit einem jungen, offenkundig verliebten Paar. Ich lächelte ihm zu, und er verbeugte sich dezent in meine Richtung. Auf Strada konnte ich gut verzichten, aber den Leibarzt des Kaisers mochte ich.
»Gallowglass? Solltet Ihr nicht Winterschlaf halten wie die anderen Bären?« Ein dünner, ironisch lächelnder Mann mit tief liegenden Augen kam auf uns zu. Er trug schlichte, aber teure Kleider, und der Goldring an seiner Hand verriet seinen Reichtum.
»In solch einem Winter sollten alle Winterschlaf halten. Wie schön, Euch bei so guter Gesundheit zu sehen, Joris.« Gallowglass ergriff seine Hand und schlug ihm auf den Rücken. Der Mann riss unter dem Schlag die Augen auf.
»Das könnte ich auch über Euch sagen, aber da Ihr stets bei guter Gesundheit seid, will ich uns die leeren Artigkeiten ersparen.« Der Mann wandte sich mir zu. »Und da haben wir La Diosa.«
»Diana«, sagte ich und knickste kurz.
»So werdet Ihr hier nicht genannt. Rudolf nennt Euch La Diosa de la caza. Das ist Spanisch für die Göttin der Jagd. Der Kaiser hat den armen Meister Spranger verdonnert, seine letzten Skizzen der dem Wasser entsteigenden Venus beiseitezulegen und sich einem neuen Motiv zuzuwenden: Diana, die beim Bade überrascht wird. Wir sind
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