Wo die Nacht beginnt
Gesicht, als könnte er damit den Vampir in seinem Salon verschwinden lassen.
»Nachdem …?« Ich beugte mich vor. Als ich in der Bibliothek Ashmole 782 zum allerersten Mal berührt hatte, hatte ich sofort gespürt, dass dieses Manuskript anders war, etwas ganz Außergewöhnliches.
»Ihr wisst gewiss mehr über dieses Buch als ich!«, fauchte Kelley, und aus seinen Augen sprühten Funken. »Ihr Hexen wart keineswegs überrascht, von seiner Existenz zu erfahren, auch wenn es einen Dämon brauchte, um das Buch zu erkennen!«
»Ich verliere allmählich die Geduld, Edward.« Der Stock zerbrach in Matthews Händen. »Meine Gemahlin hat Euch eine Frage gestellt. Beantwortet sie.«
Kelley sah Matthew lange und triumphierend an und schubste das Stockende von seinem Bauch. »Ihr hasst Hexen – zumindest wollt Ihr das alle Welt glauben machen. Aber jetzt sehe ich, dass Ihr Gerberts Schwäche für diese Kreaturen teilt. Diese hier liebt Ihr, genau wie ich Rudolf gesagt habe.«
»Gerbert«, wiederholte Matthew tonlos.
Kelley nickte. »Er war hier, als Dee noch in Prag weilte, weil er sich nach dem Buch erkundigen und seine Nase in meine Angelegenheiten stecken wollte. Rudolf ließ ihm eine der Hexen aus der Altstadt zukommen – ein siebzehnjähriges Mädchen, eine Schönheit mit Rosenhaar und blauen Augen, genau wie Euer Weib. Seither wurde sie nicht mehr gesehen. Aber in jener Walpurgisnacht loderte ein wahres Freudenfeuer. Gerbert wurde die Ehre zuteil, es zu entzünden.« Kelleys Blick richtete sich auf mich. »Ich frage mich, ob es auch in diesem Jahr ein Feuer geben wird.«
Kelleys Anspielung auf jene uralte Tradition, zur Feier des Frühlings eine Hexe zu verbrennen, brachte für Matthew das Fass zum Überlaufen. Bevor ich überhaupt begriff, was geschah, hielt er Kelley kopfüber aus dem Fenster.
»Seht nur nach unten, Edward. Es ist nicht weit zum Boden. Ihr würdet den Sturz überleben, fürchte ich, und Euch nur ein, zwei Knochen brechen. Allerdings würde ich Euch unten auflesen und Euch nach oben in Euer Schlafgemach schleifen. Auch dort gibt es gewiss ein Fenster. Und irgendwann wäre ich dann so weit oben, dass Euer trauriger Kadaver am Boden zerschellen würde. Bis dahin wäre jeder Knochen in Eurem Leib entzwei, und Ihr hättet mir schon längst alles erzählt, was ich wissen will.« Als ich aufstehen wollte, drehte Matthew sich mit finsterer Miene zu mir um. »Setz. Dich.« Er holte tief Luft. »Bitte.« Ich setzte mich.
»Dees Buch leuchtete vor Kraft. Ich konnte seine Macht riechen, sobald ich es in Mortlake aus dem Regal zog. Er hatte keine Ahnung, wie wichtig dieses Werk ist, aber mir war das sofort klar.« Plötzlich konnte Kelley gar nicht schnell genug sprechen. Als er kurz Atem holen wollte, rüttelte Matthew ihn durch. »Es gehörte früher dem Hexer Roger Bacon, der es als großen Schatz behandelte. Sein Name steht zusammen mit der Inschrift Verum Secretum Secretorum auf dem Titelblatt.«
»Aber es ist ganz anders als das Secretum Secretorum«, wandte ich ein. Natürlich kannte ich das beliebte mittelalterliche Werk. »Es ist keine Enzyklopädie, sondern enthält alchemistische Illustrationen.«
»Die Illustrationen sollen lediglich den wahren Inhalt abschirmen«, keuchte Kelley. »Darum nannte es Bacon auch Das wahre Geheimnis aller Geheimnisse.«
»Und was besagt es?« Ich musste aufstehen, so aufgeregt war ich. Diesmal hielt Matthew mich nicht zurück. Außerdem zog er Kelley wieder ins Zimmer zurück. »Konntet Ihr den Inhalt lesen?«
»Vielleicht.« Kelley zog seine Robe gerade.
»Er konnte das Buch genauso wenig lesen.« Matthew ließ Kelley angewidert los. »Ich kann hinter seiner Angst die Lüge riechen.«
»Es ist in einer fremden Sprache geschrieben. Nicht einmal Rabbi Löw konnte es entziffern.«
»Der Maharal hat das Buch gesehen?« Matthew erinnerte mich immer noch an ein Raubtier vor dem Sprung.
»Offenbar habt Ihr bei Eurem Besuch im jüdischen Viertel nicht danach gefragt, als Ihr Euch bei Rabbi Löw nach dem Hexer erkundigt habt, der diese Lehmkreatur namens Golem geschaffen hat. Genauso wenig wie Ihr den Betreffenden und seine Schöpfung fandet.« Kelley sah ihn verächtlich an. »So viel zu Macht und Einfluss, die man Euch nachsagt. Ihr konntet nicht einmal ein paar Juden einschüchtern.«
»Ich glaube nicht, dass es hebräische Worte sind.« Wieder sah ich die Symbole vor mir, die unter meinen Blicken über das Palimpsest gehuscht waren.
»Sind sie auch nicht.
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