Wo die Nacht beginnt
Gebäude gleich den Kammern eines Schneckenhauses wie von selbst aus den Mauern der Nachbargebäude entwickelt.
Rabbi Löw lebte am Ende einer gewundenen Gasse, in der ich mir heimlich eine Tüte Brotkrumen wünschte, damit wir auch wieder hinausfanden. Die Bewohner warfen uns zaghafte Blicke zu, aber kaum jemand wagte, uns zu grüßen. Wer es tat, sprach Matthew mit »Gabriel« an. Es war einer seiner vielen Namen, und dass er hier damit gegrüßt wurde, verriet mir, dass ich in eines von Matthews zahllosen Kaninchenlöchern gefallen war und bald auf eine seiner vielen früheren Persönlichkeiten treffen würde.
Als ich schließlich vor dem gütigen Mann stand, der als Maharal bekannt war, begriff ich, warum Matthew so ehrfürchtig von ihm sprach. Rabbi Löw strahlte die gleiche ruhige Kraft aus, die ich auch bei Philippe gespürt hatte. Verglichen mit seiner würdevollen Ausstrahlung wirkten Rudolfs herrische Gesten und Elisabeths Weinerlichkeit lächerlich. In einem Zeitalter wie diesem, wo man seinen Willen gewöhnlich mit brutaler Gewalt durchsetzte, war sein Auftreten umso beeindruckender. Der Maharal wurde für seine Kenntnisse und seine Weisheit geachtet, nicht für seine Körperkräfte.
»Der Maharal ist einer der größten Männer, die je gelebt haben«, hatte Matthew schlicht geantwortet, als ich ihn bat, mir mehr über Judah Löw zu erzählen. Wenn man bedachte, wie lange Matthew schon auf der Welt war, war das ein unglaubliches Lob.
»Ich dachte doch, Gabriel, dass wir unser Geschäft abgeschlossen hätten«, erklärte Rabbi Löw streng und auf Latein. Er sah aus wie ein Schulrektor und klang auch so. »Ich wollte Euch damals nicht den Namen des Hexers sagen, der dem Golem Leben einhauchte, und ich werde es auch diesmal nicht tun.« Rabbi Löw wandte sich an mich. »Bitte verzeiht, Frau Roydon. Meine Ungeduld mit Eurem Gemahl ließ mich meine Manieren vergessen. Es ist mir ein Vergnügen, Euch kennenzulernen.«
»Ich bin nicht wegen des Golems hier«, erwiderte Matthew. »Heute geht es um eine private Angelegenheit. Es geht um ein Buch.«
»Und welches Buch wäre das?« Der Maharal blinzelte zwar nicht, doch eine winzige Störung in der Luft verriet mir, dass er durchaus reagiert hatte. Seit der Begegnung mit Kelley spürte ich in mir ein magisches Kribbeln, so als hinge ich an einer Steckdose. Meine Feuerdrachin regte sich. Und die Stränge, die mich umgaben, leuchteten immer wieder farbig auf und erhellten dabei einzelne Gegenstände, Personen oder einen Weg durch die Straßen, fast als wollten sie mir etwas mitteilen.
»Es handelt sich um ein Werk, das meine Gemahlin weit von hier an einer Universität fand«, sagte Matthew. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass er die Wahrheit sagen würde. Rabbi Löw offenbar genauso wenig.
»Ach. Wie ich sehe, sind wir heute Nachmittag ehrlich zueinander. Dann sollten wir uns an einen ruhigeren Ort begeben, damit ich das Erlebnis genießen kann. Kommt mit in meine Schreibstube.«
Er führte uns in eine winzige Kammer am hinteren Ende des labyrinthisch verwinkelten Erdgeschosses. Der verschrammte Schreibtisch und die Bücherstapel strahlten etwas tröstlich Vertrautes aus. Ich roch Tinte und etwas, das mich an die Kolofoniumdose in meinem Kindertanzstudio erinnerte. In einem Eisentopf neben der Tür schwammen Kügelchen, die wie kleine braune Äpfel aussahen und in einer genauso braunen Flüssigkeit auf- und abtauchten. Das Ganze sah nach einer Hexenbrühe aus, und ich fragte mich besorgt, was in den ekligen Tiefen des Kessels wohl sonst noch schlummern mochte.
»Ist die neue Tinte diesmal zu Eurer Zufriedenheit?«, fragte Matthew und stupste mit dem Finger einen der in der Flüssigkeit treibenden Bälle an.
»Allerdings. Ihr habt mir einen großen Dienst erwiesen, als Ihr mir rietet, die Nägel in den Kessel zu geben. Auf diese Weise braucht es weniger Ruß, um die Tinte zu schwärzen, und sie bleibt geschmeidiger.« Rabbi Löw deutete auf einen Stuhl. »Bitte setzt Euch.« Er wartete ab, bis ich Platz genommen hatte, und ließ sich dann auf der einzigen anderen Sitzgelegenheit nieder: einem dreibeinigen Hocker. »Gabriel kann stehen. Er ist nicht mehr jung, aber seine Beine sind stark.«
»Ich bin jung genug, um wie ein Schüler zu Euren Füßen zu sitzen, Maharal .« Grinsend hockte sich Matthew im Schneidersitz auf den Boden.
»Meine Studenten sind nicht so unvernünftig, sich bei dieser Kälte auf den Boden zu setzen.« Rabbi Löw studierte mich.
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