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Wo die Nacht beginnt

Wo die Nacht beginnt

Titel: Wo die Nacht beginnt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Deborah Harkness
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Der Kaiser ließ Rabbi Löw eigens in die Burg kommen, um das zu klären.« Kelley hatte damit mehr verraten, als er beabsichtigt hatte. Sein Blick zuckte zu seinem Stock hinüber, und die ihn umgebenden Stränge züngelten auf und begannen sich zu verknoten. Plötzlich sah ich vor mir, wie Kelley den Stock hob, um jemanden zu schlagen. Was führte er im Schilde?
    Dann begriff ich: Er wollte mich schlagen. Ein unverständlicher Laut platzte aus meinem Mund, ich streckte den Arm aus, und Kelleys Stock flog von selbst in meine offene Hand. Für einen winzigen Augenblick verwandelte sich mein Arm in einen Ast, bevor er wieder seine gewöhnliche Gestalt annahm. Meine Gebete, dass Kelley nichts bemerkt hatte, weil sich alles so blitzschnell abgespielt hatte, wurden nicht erhört. Das verriet mir sein Gesichtsausdruck.
    »Passt auf, dass Euch der Kaiser nicht dabei erwischt«, grinste Kelley. »Sonst schließt er Euch weg. Ich habe Euch alles gesagt, was Ihr wissen wolltet, Roydon. Jetzt ruft die Hunde der Kongregation zurück.«
    »Ich glaube, das kann ich nicht«, sagte Matthew und nahm mir den Stock aus der Hand. »Ganz gleich, was Gerbert glaubt, Ihr seid eine Gefahr. Trotzdem lasse ich Euch in Frieden – vorerst. Tut nichts, was meine Aufmerksamkeit erregt, dann könnt Ihr den Sommer vielleicht noch erleben.« Er warf den Stock in eine Ecke.
    »Gute Nacht, Master Kelley.« Ich raffte meinen Umhang hoch und konnte es kaum erwarten, den Dämon zu verlassen.
    »Genießt es, im Glanz des Hofes zu baden, Hexe. In Prag sind diese Augenblicke allzu vergänglich.« Kelley blieb stehen, während Matthew und ich nach unten gingen.
    Unten auf der Straße spürte ich immer noch den sanften Druck seines Blicks. Und als ich mich zum Haus mit dem Esel und der Wiege umdrehte, sah ich die gewundenen und geknickten Fäden, die Kelley mit der Welt verbanden, in abgrundtiefer Bosheit leuchten.

29
    N ach tagelangen mühsamen Verhandlungen gelang es Matthew, für mich einen Besuch bei Rabbi Judah Löw zu vereinbaren. Damit ich überhaupt Zeit dafür hatte, musste Gallowglass meine Termine bei Hofe wegen angeblicher Unpässlichkeit absagen.
    Dummerweise erregte er damit die Aufmerksamkeit des Kaisers, und sofort wurde unser Haus mit Heilmitteln überschwemmt: terra armenia , die Tonerde mit sagenhaft heilenden Kräften; Bezoarsteine aus den Gallenblasen von Ziegen, um Gift abzuwehren; eine Schale aus dem Horn eines Einhorns, darin eine nach dem kaiserlichen Hausrezept angerührte Latwerge. Hierfür musste ein Ei mit Safran geröstet werden, bevor es mit Senfsamen, Engelwurz, Wacholderbeeren, Kampfer und anderen mysteriösen Substanzen pulverisiert und schließlich mit Sirup und Honig zu einer zähen Paste verrührt wurde. Rudolf schickte Dr. Hájek, um sie mir zu verabreichen. Allerdings hatte ich nicht vor, diese unappetitliche Masse in den Mund zu nehmen, wie ich dem kaiserlichen Leibarzt mitteilte.
    »Ich werde dem Kaiser ausrichten, dass Ihr auf dem Weg der Besserung seid«, kommentierte er trocken. »Glücklicherweise ist Seine Majestät zu sehr um Seine eigene Gesundheit besorgt, als dass es der Kaiser riskieren würde, in die Sporengasse zu kommen, um meine Prognose zu überprüfen.«
    Wir dankten ihm ausgiebig für die Diskretion und verabschiedeten ihn mit einem der Brathähnchen, die uns aus der kaiserlichen Küche geschickt worden waren, um meinen Appetit anzuregen. Ich warf das begleitende Schreiben ins Feuer. Damit Ihr nicht hungrig bleiben möget. Ich werde dafür Sorge tragen, dass Ihr stets befriedigt seid. Rudolff
    Auf dem Weg über die Moldau in die Prager Altstadt hatte ich erstmals Gelegenheit, das geschäftige Treiben im Stadtzentrum zu beobachten. In den Arkaden unter den drei- oder vierstöckigen Häusern entlang der gewundenen Straßen führten wohlhabende Kaufleute ihre Geschäfte. Sobald wir nach Norden abbogen, änderte sich der Charakter der Stadt: Hier waren die Häuser kleiner, die Bewohner schäbiger gekleidet, die Geschäfte nicht mehr so gut besucht. Dann überquerten wir eine breite Straße und gelangten durch ein Tor in das jüdische Ghetto. Über fünftausend Juden lebten in dem kleinen Bezirk zwischen den Handwerksbetrieben am Ufer der Moldau, dem Marktplatz in der Altstadt und einem Kloster. Das jüdische Ghetto war vollgepfropft – und zwar unvorstellbar, selbst für Londoner Maßstäbe – mit Häusern, die weniger konstruiert als vielmehr gewachsen zu sein schienen, so als hätten sich alle

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