Wo die Nacht beginnt
Blut getrunken und sich vom Rande des Todes in die Welt zurückgehangelt hatte. Damals hatte ich geglaubt, er hätte mich nicht gehört.
Wieder bewegte er sich in mir und wiederholte die Worte dabei wie eine Beschwörung. Es war die schlichteste, reinste Form von Magie. Matthew war ohnehin untrennbar mit meiner Seele verwoben. Jetzt war er auch mit meinem Körper verwoben, so wie ich mit seinem verwoben war. Mein Herz, das in den letzten Monaten bei jeder traurigen Berührung, bei jedem bedauernden Blick von Neuem gebrochen war, begann endlich zu heilen.
Als die Sonne über den Horizont stieg, legte ich einen Finger zwischen seine Augen.
»Ich frage mich, ob ich deine Gedanken lesen könnte.«
»Das hast du schon getan«, sagte Matthew, nahm meinen Finger weg und küsste ihn. »Damals in Oxford, als du das Bild deiner Eltern geschickt bekamst. Dir war gar nicht klar, was du da tatest. Trotzdem hast du damals all die Fragen beantwortet, die ich dir nicht laut zu stellen wagte.«
»Darf ich es noch mal versuchen?« Insgeheim rechnete ich damit, dass er ablehnen würde.
»Natürlich. Wenn du ein Vampir wärst, hätte ich dir schon längst mein Blut angeboten.« Er ließ sich in die Kissen sinken.
Ich wartete kurz ab, brachte meine Gedanken zur Ruhe und konzentrierte mich dann auf eine schlichte Frage. Wie kann ich in Matthews Herz blicken?
Ein dünner silberner Strang zog sich schimmernd von meinem Herzen zu dem Punkt an seiner Stirn, an dem bei einer Hexe das dritte Auge saß. Der Strang verkürzte sich und zog mich zu ihm, bis meine Lippen auf seiner Haut lagen.
In meinem Kopf explodierte ein Feuerwerk von Bildern und Klängen. Ich sah Jack und Annie, Philippe und Ysabeau. Ich sah Gallowglass und Männer, die ich nicht kannte, die aber einen wichtigen Platz in Matthews Erinnerungen einnahmen. Ich sah Eleanor und Lucas. Ich spürte seinen Triumph, als er ein wissenschaftliches Mysterium entschlüsselte, den Freudenschrei, als er in den Wald hinausritt, um zu jagen und zu töten, so wie es seiner Natur entsprach. Ich sah mich selbst, wie ich ihn anlächelte.
Dann sah ich das Gesicht von Herrn Fuchs, dem Vampir, dem ich im jüdischen Viertel begegnet war, und hörte unmissverständlich die Worte mein Sohn Benjamin.
Abrupt setzte ich mich auf und presste die Finger auf meine zitternden Lippen.
»Was ist denn?« Matthew setzte sich ebenfalls auf und runzelte die Stirn.
»Herr Fuchs! Ich wusste nicht, dass er dein Sohn ist, dass er Benjamin ist.« Der Vampir hatte nichts ausgestrahlt, was darauf schließen ließ, dass er zum Blutrausch neigte.
»Das ist nicht deine Schuld. Du bist kein Vampir, und Benjamin gibt nur das zu erkennen, was er die Welt sehen lassen will.« Matthew sprach beruhigend auf mich ein. »Offenbar habe ich gespürt, dass er bei dir war – einen Hauch seines Geruchs, eine dunkle Ahnung, dass er in der Nähe war. Deshalb dachte ich, dass du etwas vor mir geheim hältst. Ich habe mich getäuscht. Bitte verzeih, dass ich an dir gezweifelt habe, mon cœur .«
»Aber Benjamin muss gewusst haben, wer ich bin. Bestimmt habe ich von Kopf bis Fuß nach dir gerochen.«
»Natürlich wusste er das«, bestätigte Matthew leidenschaftslos. »Ich werde mich morgen auf die Suche nach ihm machen, aber wenn Benjamin nicht gefunden werden will, kann ich nichts weiter tun, als Gallowglass und Philippe zu warnen. Sie werden dem Rest der Familie mitteilen, dass Benjamin wieder aufgetaucht ist.«
»Sie warnen?« Meine Haut prickelte vor Angst, als er nickte.
»Nur eines ist noch beängstigender als Benjamin im Blutrausch – Benjamin bei klarem Verstand, so wie während deiner Begegnung mit Rabbi Löw. Jack hat den Nagel auf den Kopf getroffen«, erwiderte Matthew. »Die schrecklichsten Monster sehen aus wie ganz gewöhnliche Menschen.«
31
I n jener Nacht wurden wir endgültig eins. Von nun an ruhte Matthew tiefer in sich als je zuvor. Die scharfen Erwiderungen, die abrupten Richtungswechsel und impulsiven Entscheidungen, die unseren Aufenthalt bis dahin gekennzeichnet hatten, gehörten der Vergangenheit an. Stattdessen ging Matthew methodisch und mit Maß vor – was ihn nicht weniger gefährlich machte. Er trank regelmäßiger Blut und ging dazu in der Stadt und den umliegenden Dörfern jagen. Langsam gewannen seine Muskeln an Umfang und Kraft, und jetzt begriff ich auch, was Philippe damals gemeint hatte: So unwahrscheinlich es bei dieser Größe erschien, aber sein Sohn hatte sich zu lange schlecht
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