Wo die Nacht beginnt
festen gelb-weißen Strang zu verzwirbeln oder ein Gewebe aus horizontalen und vertikalen Fäden zu bilden, kreisten sie jetzt locker um ein unsichtbares Zentrum, beinahe wie die gelockten Bänder eines Geburtstagsgeschenks. Kurze, vertikale Stränge verhinderten, dass sich die Locken gegenseitig berührten. Es sah fast aus wie …
Eine Doppelhelix. Ich schlug mir die Hand vor den Mund und sah wieder auf das Manuskript. Seit ich das Buch berührt hatte, haftete der moschusartige Geruch auch meinen Fingern an. Er war kräftig und würzig wie …
Fleisch und Blut. Ich blickte zu Matthew auf und wusste im selben Moment, dass ich genauso entsetzt aussah wie er vorhin.
»Du siehst aus, als fühltest du dich nicht wohl, mon cœur«, erklärte er fürsorglich und zog mich sanft von meinem Stuhl hoch. »Ich werde dich nach Hause bringen.« Genau in diesem Moment verlor Kelley die Beherrschung.
»Ich höre ihre Stimmen. Sie sprechen in unverständlichen Zungen. Könnt Ihr sie auch hören?«
Er stöhnte gequält auf und presste sich die Hände auf die Ohren.
»Was soll das Geplapper?«, fuhr Rudolf ihn an. »Dr. Hájek, mit Edward stimmt etwas nicht.«
»Euren Namen werdet Ihr auch darin finden«, erklärte mir Edward lauter, so als wollte er ein Geräusch übertönen. »Ich wusste es sofort, als ich Euch sah.«
Ich senkte den Blick. Auch ich war durch geringelte Stränge mit dem Buch verbunden – nur dass meine weiß und lila waren. Matthew war durch rote und weiße Stränge daran gebunden.
Gallowglass erschien, ohne Ankündigung und ohne Einladung. Ein stämmiger Wachposten folgte ihm, eine Hand auf den anderen, schlaff herabhängenden Arm gepresst.
»Die Pferde sind bereit«, erklärte uns Gallowglass und deutete zum Ausgang.
»Ihr dürft hier nicht sein!«, kreischte Rudolf zornig, weil sich sein sorgfältig ausgetüftelter Plan in Luft auflöste. »Und Ihr, La Diosa, dürft noch nicht gehen.«
Matthew schenkte Rudolf keine Beachtung. Er nahm einfach meinen Arm und marschierte auf die Tür zu. Ich merkte, wie das Manuskript an mir zerrte, wie sich die Stränge dehnten und mich wieder zurückholen wollten.
»Wir dürfen das Buch nicht hierlassen. Es ist …«
»Ich weiß, was es ist«, fiel mir Matthew grimmig ins Wort.
»Haltet sie auf!«, zeterte Rudolf.
Aber der Wachposten mit dem gebrochenen Arm hatte sich an diesem Abend schon einmal mit einem wütenden Vampir angelegt. Er würde sein Schicksal nicht herausfordern, indem er sich jetzt Matthew in den Weg stellte. Stattdessen verdrehte er die Augen und sank ohnmächtig zu Boden.
Noch während wir die Stufen hinabstürmten, warf Gallowglass mir meinen Umhang über die Schultern. Am unteren Ende der Treppe lagen zwei weitere Wachposten – ebenfalls bewusstlos.
»Geh wieder hoch, und hol das Buch!«, befahl ich Gallowglass, völlig außer Atem, weil ich in meinem Korsett keine Luft bekam und wir im Gewaltmarsch über den Hof eilten. »Jetzt, wo wir wissen, was es ist, dürfen wir es Rudolf keinesfalls überlassen.«
Matthew blieb unvermittelt stehen und bohrte die Finger in meinen Arm. »Wir werden Prag nicht ohne das Manuskript verlassen. Ich verspreche dir, dass ich es holen werde. Aber zuerst müssen wir nach Hause. Du musst alles vorbereiten, damit wir mit den Kindern aufbrechen können, sobald ich zurückkomme.«
»Wir haben alle Brücken hinter uns abgebrochen, Tantchen«, erklärte Gallowglass grimmig. »Pistorius sitzt eingeschlossen im Weißen Turm. Ich habe einen Wachposten getötet und drei weitere verwundet. Rudolf hat dich auf höchst unanständige Weise berührt, und ich merke, dass ich mich beherrschen muss, wenn ich ihn nicht ebenfalls töten will.«
»Du verstehst das nicht, Gallowglass. Vielleicht ist dieses Buch die Antwort auf alles«, brachte ich noch heraus, bevor Matthew mich wieder fortriss.
»O, ich verstehe das besser, als du glaubst«, hörte ich Gallowglass’ Stimme neben mir im Wind. »Ich habe es schon unten gerochen, als ich die Wachposten außer Gefecht setzte. In diesem Buch stecken tote Wearhs. Hexen und Dämonen auch, nehme ich an. Wer hätte gedacht, dass das verlorene Buch des Lebens nach Tod stinkt?«
32
W er würde so etwas tun?« Zwanzig Minuten später saß ich schlotternd am Kamin in unserem Wohnraum im ersten Stock und klammerte mich an meinen Becher Kräutertee. »Das ist doch grauenvoll.«
Wie die meisten Manuskripte war auch Ashmole 782 aus Pergament gebunden – besonders präparierter Haut, die in
Weitere Kostenlose Bücher