Wo die Nacht beginnt
verängstigt aussahen.
Unten auf der Seite stand in der Handschrift des ausgehenden dreizehnten Jahrhunderts der Titel, den Roger Bacon dem Werk gegeben hatte: Das wahre Geheimnis der Geheimnisse.
Matthews Nasenflügel bebten, als versuche er einen bestimmten Geruch zu identifizieren. Das Buch strömte tatsächlich einen eigenartigen Duft aus – jenes moschusartige Aroma, das mir auch in Oxford aufgefallen war.
Ich blätterte weiter. Jetzt folgte das Bild, das man meinen Eltern zugeschickt hatte und das das Haus der Bishops so viele Jahre für uns aufbewahrt hatte: der Phoenix, der die Schwingen um die chemische Hochzeit faltet, während mythische und alchemistische Wesen die Vereinigung von Sol und Luna bezeugen.
Inzwischen starrte Matthew wie versteinert auf das Buch. Ich runzelte die Stirn. Er war viel zu weit weg, um etwas erkennen zu können. Was schlug ihn so in Bann?
Schnell blätterte ich weiter. Auf der dritten mir noch unbekannten Seite waren zwei alchemistische Drachen zu sehen, mit verschlungenen Schweifen, die Leiber im Kampf oder in einer Umarmung aneinandergepresst – es war unmöglich festzustellen, was davon zutraf. Ein blutiger Regen strömte aus ihren Wunden und sammelte sich in einem Becken, dem Dutzende nackter, bleicher Gestalten entstiegen. Eine solche alchemistische Illustration hatte ich noch nie gesehen.
Matthew stand jetzt direkt hinter der Schulter des Kaisers, und eigentlich hätte ich erwartet, dass sein Erschrecken in Begeisterung umschlagen würde, weil uns diese neuen Illustrationen vielleicht helfen würden, die Mysterien des Buches zu lösen. Stattdessen sah er aus, als hätte er ein Gespenst gesehen. Er hatte eine weiße Hand über Mund und Nase geschlagen. Als ich besorgt die Stirn runzelte, nickte Matthew mir zu, dass ich weiterblättern sollte.
Ich holte tief Luft und beugte mich über die erste der irritierenden alchemistischen Illustrationen, die ich damals in Oxford gesehen hatte. Sie stellte, wie erwartet, das neugeborene Mädchen mit den beiden Rosen dar. Nicht erwartet hatte ich allerdings, dass der freie Raum rund um die Illustration mit Text überzogen war. Es handelte sich um eine eigenartige Mischung aus Symbolen und einigen vereinzelten Buchstaben. In der Bodleian Library war dieser Text unter einem Zauberspruch verborgen gewesen, der das Manuskript in ein magisches Palimpsest verwandelt hatte. Hier, wo das Buch noch unversehrt war, lag der geheime Text offen zutage. Allerdings konnte ich ihn zwar sehen, aber nicht lesen.
Meine Finger glitten über die Zeilen. Durch meine Berührung lösten sich die Worte auf und verwandelten sich in ein Gesicht, eine Silhouette, einen Namen. Es war, als versuche mir der Text eine Geschichte zu erzählen, die sich um Tausende von verschiedenen Wesen rankte.
»Ich hätte Euch jede Bitte erfüllt«, hauchte Rudolf gegen mein Ohr. Wieder roch ich Zwiebeln und Wein. Es war der direkte Gegensatz zu Matthews sauberem, würzigem Duft. Und nachdem ich inzwischen an die kühle Haut eines Vampirs gewöhnt war, stieß mich Rudolfs Wärme zusätzlich ab. »Warum habt Ihr genau hierum gebeten? Das Buch ist nicht zu verstehen, auch wenn Edward glaubt, dass es ein großes Geheimnis birgt.«
Ein langer Arm griff zwischen uns und strich behutsam über die Seite. »Wahrhaftig, dieses Manuskript ist genauso nichtssagend wie jenes, das Ihr dem armen Dr. Dee untergeschoben habt.« Matthews Miene strafte seine Worte Lügen. Aber vielleicht hatte Rudolf den zuckenden Muskel in Matthews Kiefer nicht bemerkt, oder er wusste nicht, wie sich die feinen Falten rund um die Vampiraugen vertieften, wenn er sich konzentrierte.
»Nicht unbedingt«, wandte ich hastig ein. »Alchemistische Texte versteht man erst nach langem Studium und eingehender Überlegung. Wenn ich vielleicht mehr Zeit damit verbringen könnte …«
»Selbst dann müsste Gott selbst Euch berühren.« Rudolf sah Matthew finster an. »Und Gott hat Edward berührt, wie Er Euch gewiss nicht berühren wird, Herr Roydon.«
»Oh ja, berührt ist er, das steht fest«, sagte Matthew und sah auf Kelley. Der englische Alchemist benahm sich ausgesprochen eigenartig, seit das Buch nicht mehr in seinem Besitz war. Stränge verbanden ihn mit dem Manuskript. Aber was genau fesselte Kelley an Ashmole 782 ?
Noch während sich die Frage in meinem Kopf herausschälte, nahmen die feinen gelben und weißen Stränge, die Kelley mit Ashmole 782 verbanden, neue Gestalt an. Statt sich wie sonst zu einem
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