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Wo die Nacht beginnt

Wo die Nacht beginnt

Titel: Wo die Nacht beginnt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Deborah Harkness
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runzelte die Stirn. »Wo ist er hin, Signor Strada?«
    »Ich habe ihn nicht mehr gesehen, seit wir den Großen Saal verlassen haben, Eure Majestät«, erwiderte Strada.
    »Du da!« Rudolf deutete auf einen Diener. »Geh ihn suchen!« Der Mann rannte augenblicklich los. Der Kaiser gewann die Fassung wieder und drehte sich zu dem merkwürdigen Objekt vor uns um. Es sah aus wie ein grob geschnitzter nackter Mann. »Dies, La Diosa , ist die sagenumwobene Eppendorfer Alraune. Vor einem Jahrhundert stahl eine Frau eine geweihte Hostie aus der Kirche und pflanzte sie bei Vollmond ein, um ihren Garten fruchtbarer zu machen. Am nächsten Morgen entdeckte man dort einen riesigen Kohlkopf.«
    »Der aus der Hostie gewachsen war?« Bestimmt war bei der Übersetzung etwas verlorengegangen, denn ich glaubte nicht, dass ich das Wesen der christlichen Eucharistie bisher so falsch verstanden hatte. Ein Arbor Dianae war eines. Ein Arbor brassicae etwas ganz anderes.
    »Ja. Es war ein Wunder. Und als der Kohl ausgegraben wurde, erinnerte dessen Wurzel an den Leib Christi.« Rudolf streckte mir das Ding hin. Es war mit einem goldenen und perlenbesetzten Diadem gekrönt. Vermutlich war das später hinzugefügt worden.
    »Faszinierend.« Ich gab mir alle Mühe, fasziniert auszusehen und zu klingen.
    »Ich wollte Euch das zeigen, weil es an ein Bild in dem Buch, das Ihr zu sehen wünscht, erinnert. Holt Edward, Ottavio.«
    Edward Kelley trat ein, ein in Leder gebundenes Buch an seine Brust pressend.
    Sobald ich es sah, wusste ich es. Obwohl das Buch noch am anderen Ende des Raumes war, begann mein ganzer Körper zu kribbeln. Ich konnte die Kraft spüren, die von dem Pergament ausging – und zwar weitaus deutlicher als in der Bibliothek an jenem Samstagabend, der mein Leben verändert hatte.
    Dies war das verlorengegangene Ashmole-Manuskript – und zwar bevor es Elias Ashmole gehört hatte und bevor es verlorengegangen war.
    »Ihr werdet neben mir sitzen, und wir werden das Buch gemeinsam betrachten.« Rudolf deutete auf einen Tisch und zwei Stühle, die nebeneinander davor standen. »Gebt mir das Buch, Edward.« Rudolf streckte die Hand aus, und Kelley legte das Manuskript widerwillig hinein.
    Ich warf Matthew einen fragenden Blick zu. Und wenn das Manuskript zu glühen begann, so wie damals in der Bodleian Library, oder sich irgendwie merkwürdig verhielt? Und wenn ich nicht aufhören konnte, mir Fragen über das Buch und seine Geheimnisse zu stellen? Wenn sich jetzt meine Magie bemerkbar machen würde, hätte das katastrophale Folgen.
    Deswegen sind wir hier, sagte mir sein zuversichtliches Nicken.
    Ich setzte mich neben den Kaiser, und Strada führte die übrigen Höflinge weiter durch den Raum zu dem angeblichen Einhorn. Matthew blieb unauffällig in unserer Nähe. Ich starrte auf das Buch vor uns und wagte kaum zu glauben, dass endlich der Augenblick gekommen sein sollte, in dem ich Ashmole 782 unversehrt und in einem Stück zu sehen bekam.
    »Und?«, riss mich Rudolf aus meinen Gedanken. »Werdet Ihr es aufschlagen?«
    »Natürlich«, sagte ich und zog das Werk zu mir her. Die Seiten begannen nicht zu schillern. Prüfend legte ich kurz die Hand auf den Umschlag, so wie damals, als man mir Ashmole 782 aus dem Archiv gebracht hatte. Damals hatte es erkennend aufgeseufzt, so als hätte es nur darauf gewartet, dass ich auftauchte. Diesmal blieb es still liegen.
    Ich klappte das Holzbrett zurück, das den vorderen Einband darstellte, und blickte auf ein blankes Pergament. Im Geist beschwor ich herauf, was ich damals gesehen hatte. Dies war das Vorsatzblatt, auf das Ashmole und mein Vater eines Tages den Titel des Buches schreiben würden.
    Ich blätterte um und spürte wieder die gespenstische Schwere der Seite. Als sie sich öffnete, schnappte ich unwillkürlich nach Luft.
    Auf der ersten, später fehlenden Seite leuchtete ein minutiös gemalter Baum. Der Baumstamm war knotig und knorrig, dick und biegsam zugleich. Oben entsprangen ihm Äste, die sich über die ganze Seite reckten und streckten und in einer eigensinnigen Kombination aus Laub, knallrotem Obst und Blüten endeten. Der Baum ähnelte dem Arbor Dianae , den Mary mit meinem und Matthews Blut gezüchtet hatte.
    Als ich mich tiefer über die Seite beugte, stockte mir der Atem. Der Baumstamm bestand nicht aus Holz, Saft und Rinde. Sondern aus Hunderten menschlicher Leiber – die sich teils zappelnd in Schmerzen wanden, teils in heiterer Umarmung befanden oder aber einsam und

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