Wo die Nacht beginnt
damit rechnen, dass jeden Augenblick jemand hereinkam und uns überraschte.
»Zu müde.« Ich gähnte. »Aber Ihr braucht meinetwegen nicht zu gehen. Bleibt hier, und wartet auf Matthew. Er wird sich freuen, Euch zu sehen. Was schreibt Ihr da?«
»Ein Gedicht.« Mit dieser knappen Antwort setzte sich Kit wieder. Etwas stimmte nicht. Der Dämon war viel zu zappelig.
Auf dem Wandteppich hinter ihm war eine Maid mit goldenem Haar zu sehen, die aus einem Turm aufs Meer blickte. Sie hielt eine Laterne und spähte in die Ferne. Das erklärt es.
»Ihr schreibt über Hero und Leander.« Das war keine Frage. Wahrscheinlich verzehrte sich Kit nach Matthew und schrieb schon an seinem epischen Liebesgedicht, seit wir im Januar in Gravesend an Bord gegangen waren. Er antwortete nicht.
Nach ein paar Sekunden zitierte ich die wichtigsten Verse.
Mancher schwor, er sei schöner als jede Maid
Reizend wie eine Göttin im Männerkleid
Die lächelnde Wange, der sprechende Blick,
Die Stirn der Liebe entrückt,
Und wer ihn als Mann erkannte, sprach
Leander, du bist geschaffen fürs Schlafgemach.
Warum liebst du nicht und wirst nicht von allen geliebt?
Kit schoss aus seinem Stuhl hoch. »Was ist das für ein Hexenstreich? Ihr wisst, was ich tue, sobald ich es tue.«
»Das ist kein Streich, Kit. Wer verstünde besser als ich, was Ihr empfindet?«, erklärte ich vorsichtig.
Kit schien sich wieder in die Gewalt zu bekommen, doch seine Hände zitterten immer noch. »Ich muss los. Ich bin auf dem Turnierplatz verabredet. Man munkelt, es soll im nächsten Monat noch einen großen Wettkampf geben, bevor die Königin ihre Sommerreise antritt.« Jedes Jahr zog Elisabeth mit einem Tross von Dienern und Höflingen durch ihr Reich, nassauerte bei ihren Adligen und hinterließ riesige Schuldenberge und geplünderte Speisekammern.
»Ich werde Matthew ausrichten, dass Ihr hier wart.«
Marlowes Augen begannen zu glänzen. »Vielleicht wollt Ihr mich begleiten, Mistress Roydon? Es ist ein so schöner Tag, und Ihr habt noch nichts von Greenwich gesehen.«
»Danke, Kit.« Sein abrupter Stimmungsumschwung verwirrte mich, aber schließlich war er ein Dämon. Und er vergötterte Matthew. Ich hätte mich zwar lieber ausgeruht, und Kits Avancen erschienen mir ziemlich gestelzt, trotzdem hatte ich das Gefühl, ich sollte mich um etwas Harmonie bemühen. »Ist es weit? Ich bin recht müde nach der langen Reise.«
»Gar nicht weit.« Kit verbeugte sich. »Nach Euch.«
Der Turnierplatz in Greenwich erinnerte an ein großes Stadion, in dem es mit Seilen abgetrennte Bereiche für die Athleten, Tribünen für die Zuschauer und ein paar verstreute Trainingsgeräte gab. Zwei lange Schranken teilten der Länge nach den festgetretenen Boden.
»Findet dort das Lanzenstechen statt?« Ich meinte zu hören, wie die Hufe über die Erde donnerten, wenn die Ritter aufeinander zustürmten, die Lanzen über den Hals ihres Pferdes gelegt, um den Schild ihres Gegners zu treffen und ihn aus dem Sattel zu heben.
»Ja. Möchtet Ihr es Euch näher ansehen?«, fragte Kit.
Außer uns war niemand zu sehen. Hier und da steckten Lanzen im Boden. Ich sah einen hohen Mast mit langem Ausleger, der alarmierend an einen Galgen erinnerte. Allerdings hing kein Körper daran, sondern nur ein Sandsack. Er war durchbohrt worden, und der Sand rieselte in einem dünnen Rinnsal zu Boden.
»Eine Stechpuppe«, erklärte Marlowe, auf den Galgen deutend. »Die Reiter zielen mit ihren Lanzen auf den Sandsack.« Er hob die Hand und stieß den Arm an, um es mir zu demonstrieren. Der Ausleger schwang herum und bot ein bewegliches Ziel, an dem sich die Reiter üben konnten. Marlowe ließ den Blick über den Turnierplatz schweifen.
»Wolltet Ihr Euch nicht mit jemandem treffen?« Auch ich sah mich um. Aber ich entdeckte niemanden außer einer großen, dunkelhaarigen Frau in einem üppigen roten Kleid. Sie stand weit von uns entfernt und hatte sich zweifelsfrei zu einem Stelldichein vor dem Abendessen auf dem Turnierplatz eingefunden.
»Habt Ihr die andere Stechpuppe auch gesehen?« Kit deutete in die entgegengesetzte Richtung, wo an einem Pfosten eine Puppe aus Stroh und grobem Linnen hing. Auch sie sah eher nach einem Gehenkten als nach einem Trainingsgerät aus.
Ich spürte einen kalten, gezielten Blick. Ehe ich mich umdrehen konnte, wurde ich von Vampirarmen festgehalten, die die vertraute stählerne Kraft ausstrahlten. Aber diesmal gehörten die Arme nicht Matthew.
»Also, sie ist noch
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