Wo die Nacht beginnt
gefesselt im Mai an einem Pfahl im Greenwich-Palast. Ich war vier oder fünf und lag auf dem Rücken in dem kleinen Garten hinter unserem Haus in Cambridge.
Und mir fiel alles wieder ein.
Mein Vater und ich hatten im frisch gefallenen Schnee gespielt. Meine Handschuhe leuchteten im Rot des Harvardwappens vor dem Weiß. Wir zeichneten Engel in den Schnee, indem wir mit Armen und Beinen auf und ab wedelten. Ich verfolgte gebannt, wie die weißen Flügel, wenn ich die Arme nur schnell genug bewegte, einen rötlichen Saum zu bekommen schienen.
»Fast wie der Drache mit den Feuerschwingen«, flüsterte ich meinem Vater zu. Seine Arme kamen zur Ruhe.
»Wann hast du einen Drachen gesehen, Diana?« Plötzlich klang er ernst. Ich kannte den Unterschied zwischen diesem Tonfall und seinen üblichen Neckereien. Ich wusste, dass er eine Antwort von mir erwartete – und dass ich die Wahrheit sagen musste.
»Schon ganz oft. Meistens in der Nacht.« Meine Arme schlugen immer schneller. Der Schnee unter ihnen veränderte die Farbe, begann golden und grün zu schimmern, rot und schwarz, silbern und blau.
»Und wo?«, flüsterte er, den Blick fest auf die Schneewehen gerichtet. Sie häuften sich um mich herum auf, wogend und rumorend, als wären sie lebendig. Eine Schneewehe wurde besonders groß und dehnte sich zu einem schlanken Drachenkopf. Der Rest der Wehe verbreiterte sich zu zwei Flügeln. Der Drache schüttelte den Schnee in dicken Flocken von seinen weißen Schuppen. Als er sich umdrehte und meinen Vater ansah, murmelte der leise auf das Schneetier ein und tätschelte dessen Nase, so als wären er und der Drache sich schon einmal begegnet. Der Drache hauchte warmen Dampf in die eisige Luft.
»Meistens ist er in mir drin – hier.« Ich setzte mich auf, um meinem Vater zu zeigen, wie ich das meinte. Meine Fäustlinge drückten auf meinen Rippenbogen. Ich spürte die Wärme meiner Rippen durch die Haut, durch die Jacke, durch die grob gestrickte Wolle der Handschuhe. »Aber wenn sie mal fliegen muss, muss ich sie rauslassen. Sonst hat sie keinen Platz für ihre Flügel.«
Hinter mir kamen zwei leuchtende Schwingen auf dem Schnee zu liegen.
»Du hast deine eigenen Flügel liegen lassen«, erklärte mir mein Vater tiefernst.
Der Drache wand sich aus der Schneewehe. Ihre silber-schwarzen Augen blinzelten, bevor sie den Schnee abschüttelte, in die Luft aufstieg und über dem Apfelbaum verschwand, wobei sie mit jedem Schwingenschlag durchsichtiger wurde. Gleichzeitig verblassten meine eigenen Flügel hinter mir im Schnee.
»Der Drache will mich nicht mitnehmen. Und sie bleibt nie lange bei mir.« Ich seufzte. »Warum eigentlich, Daddy?«
»Vielleicht muss sie woandershin.«
Ich bedachte diese Möglichkeit. »Wie wenn du mit Mommy in die Schule gehst?« Es war kaum vorstellbar, dass Eltern in die Schule gingen. Das fanden alle Kinder im Block, obwohl bei den meisten die Eltern ebenfalls den ganzen Tag an der Schule verbrachten.
»Genau so.« Mein Vater saß immer noch im Schnee, die Arme um die Knie geschlungen. Er lächelte. »Ich liebe die Hexe in dir, Diana.«
»Mommy macht sie Angst.«
»Ach was.« Mein Vater schüttelte den Kopf. »Mommy hat nur Angst vor Veränderungen.«
»Ich wollte das mit dem Drachen niemandem verraten, aber ich glaube, sie weiß schon Bescheid«, sagte ich betreten.
»Mommys wissen fast alles«, sagte mein Vater. Er sah in den Schnee. Meine Schwingen hatten sich völlig aufgelöst. »Aber sie weiß auch, wann du eine heiße Schokolade trinken willst. Ich bin sicher, dass sie welche gemacht hat, wenn wir jetzt ins Haus gehen.« Mein Vater stand auf und streckte mir die Hand hin.
Ich schob meine Finger, immer noch in meinen roten Fäustlingen, in seinen warmen Griff.
»Wirst du mich immer an der Hand halten, wenn es dunkel wird?«, fragte ich ihn. Es wurde allmählich Nacht, und plötzlich fürchtete ich mich vor den Schatten. Im Zwielicht lauerten Monster, unheimliche Kreaturen, die mich beim Spielen beobachteten.
»Nein«, sagte mein Vater kopfschüttelnd. Meine Unterlippe bebte. Ich hatte etwas anderes hören wollen. »Aber mach dir keine Sorgen.« Seine Stimme senkte sich zu einem Flüstern. »Deinen Drachen wirst du immer bei dir haben.«
Ein Blutstropfen fiel aus der kleinen Wunde an meinem Auge auf den Boden. Obwohl ich eine Augenbinde trug, konnte ich sehen, wie er sich gemächlich abwärtsbewegte und dann mit einem nassen Platscher direkt vor meinen Füßen landete. Ein
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