Wo die Nacht beginnt
Gericht. Sind die Geschworenen erst einmal eingeschüchtert, wird das den Ausgang zukünftiger Prozesse sicherstellen.«
»So hatte sich Matthew das bestimmt nicht gedacht.« Meine Gedanken überschlugen sich.
»Für mich klingt das heimtückisch genug für einen Matthew de Clermont. Napier und ihr Kind dürfen zwar überleben, dafür werden Dutzende Unschuldiger sterben.« Hubbard sah mich mit Eisesmiene an. »Ist es nicht genau das, was die de Clermonts wollen?«
»Wie könnt Ihr es wagen!«
»Ich habe die …« Annie trat auf die Straße und hätte um ein Haar ihre Kanne fallen lassen. Ich legte schützend den Arm um sie.
»Danke, Annie.«
»Wisst Ihr, wo Euer Gemahl an diesem bezaubernden Maienmorgen weilt, Mistress Roydon?«
»Er ist in Geschäften unterwegs.« Matthew hatte darauf geachtet, dass ich mein Frühstück aufaß, mir dann einen Kuss gegeben und zusammen mit Pierre das Haus verlassen. Jack war untröstlich gewesen, als Matthew ihm erklärt hatte, dass er mit Thomas Harriot zu Hause bleiben musste. Ich merkte, wie ich kurz nervös wurde. Sonst nahm Matthew Jack eigentlich immer mit in die Stadt.
»Nein«, sagte Hubbard leise, »er ist bei seiner Schwester und Christopher Marlowe in Bedlam.«
Bedlam war ein Kerker, wenn auch nicht dem Namen nach – ein Ort des Vergessens, wo die Irren eingesperrt wurden, zusammen mit jenen armen Opfern, deren Familien sich irgendeinen Vorwand aus den Fingern gesogen hatten, um sie loszuwerden. Dort gab es nur Stroh zum Schlafen, kein regelmäßiges Essen und nicht ein einziges freundliches Wort von den Wärtern, von irgendeiner Therapie ganz zu schweigen. Kaum einer der Insassen kam je wieder frei, aber falls doch, erholte er oder sie sich nur selten von dieser Erfahrung.
»Offenbar gibt sich Matthew nicht damit zufrieden, die schottische Justiz zu beeinflussen, jetzt will er auch hier in London nach Gutdünken Urteile fällen«, fuhr Hubbard fort. »Heute Morgen fuhr er los, um die beiden zu befragen. Soweit ich weiß, ist er immer noch dort.«
Es war schon nach Mittag.
»Ich habe Matthew de Clermont schnell töten sehen, wenn er in Rage war. Es ist ein grauenvoller Anblick. Aber zusehen zu müssen, wie er langsam und qualvoll tötet, würde den standfestesten Atheisten an den Teufel glauben lassen.«
Kit. Louisa war eine Vampirin und trug Ysabeaus Blut in sich. Sie konnte sich verteidigen. Aber ein Dämon …
»Lauf zu Goody Alsop, Annie. Sag ihr, ich bin in Bedlam, um nach Master Marlowe und Master Roydons Schwester zu sehen.« Ich drehte das Mädchen in die entsprechende Richtung und gab ihr einen Schubs, nicht ohne mich dabei zwischen sie und den Vampir zu stellen.
»Ich soll bei Euch bleiben!« Annies Augen waren riesig. »Das musste ich Master Roydon versprechen!«
»Erzähl Goody Alsop, was du soeben gehört hast, Annie. Ich finde schon allein nach Bedlam.« In Wahrheit hatte ich nur eine ungefähre Ahnung, wo das berüchtigte Asyl lag, aber ich hatte andere Möglichkeiten herauszufinden, wo Matthew steckte. Ich schlang imaginäre Finger um die Kette in meinem Inneren und wollte schon daran zerren.
»Wartet!« Hubbards Hand schloss sich um mein Handgelenk. Ich schrak zusammen. Er rief jemanden im Schatten. Es war der knochige junge Mann, den Matthew mit dem eigenartig passenden Namen Amen Corner angesprochen hatte. »Mein Sohn wird Euch hinbringen.«
»Matthew wird erfahren, dass ich mit Euch gesprochen habe.« Ich sah auf Hubbards Hand hinab. Sie lag immer noch auf meinem Handgelenk und übertrug seinen unverkennbaren Geruch auf meine warme Haut. »Er wird das an dem Jungen auslassen.«
Hubbards Griff verstärkte sich, und ich schnappte verstehend nach Luft.
»Wenn Ihr mich ebenfalls nach Bedlam begleiten wollt, Vater Hubbard, braucht Ihr das nur zu sagen.«
Hubbard kannte jede Abkürzung und jede winzige Gasse zwischen St. James Garlickhythe und Bishopsgate. Wir überschritten die Stadtgrenze und gelangten in eine der heruntergekommenen Londoner Vorstädte. Wie in Cripplegate herrschte auch im hoffnungslos übervölkerten Bishopsgate bitterste Armut. Aber das wahre Grauen erwartete uns erst noch.
Der Wärter empfing uns am Tor und führte uns in jenes Gebäude, das einst als Krankenhaus St. Mary of Bethlehem bekannt gewesen war. Master Sleford kannte Vater Hubbard bereits und führte uns unter zahllosen Verbeugungen und Kratzfüßen zu einer der schweren Türen am anderen Ende des unebenen Hofes. Obwohl uns dicke Holztüren und die
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