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Wo die Nacht beginnt

Wo die Nacht beginnt

Titel: Wo die Nacht beginnt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Deborah Harkness
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Wand gegenüber. Als ich sie ansah, drehte sie wimmernd das Gesicht weg. »Verschwinde, Fantôme . Ich bin schon einmal gestorben und habe von Geistern wie dir nichts zu befürchten.«
    »Sei still.« Matthews Stimme war kaum zu hören, aber gleichzeitig peitschte sie so kraftvoll durch den Raum, dass alle zurückzuckten.
    »Durstig«, krächzte Louisa. »Bitte, Matthew.«
    In regelmäßigem Abstand war ein feuchtes Tröpfeln auf Stein zu hören. Bei jedem Tropfen bäumte sich Louisas Körper auf. Jemand hatte einen Hirschkopf am Geweih aufgehängt. Aus dem abgetrennten Hals unter den leeren, starren Augen tropfte das Blut langsam und regelmäßig auf den Boden, genau dort, wo Louisa es in ihren Ketten nicht erreichen konnte.
    »Hör auf sie zu foltern!« Ich machte einen Schritt auf ihn zu, doch Gallowglass hielt mich zurück.
    »Du kannst dich da nicht einmischen, Tantchen«, erklärte er mir fest. »Matthew hat recht: Du gehörst nicht hierher.«
    »Gallowglass.« Matthew schüttelte warnend den Kopf. Gallowglass ließ meinen Arm los und beobachtete argwöhnisch seinen Onkel.
    »Also schön. Dann will ich deine Frage von vorhin beantworten, Tantchen. Matthew hat gerade genug Blut von Kit getrunken, um seinen Blutrausch in Brand zu halten. Vielleicht brauchst du das hier, wenn du mit ihm sprechen willst.« Gallowglass warf mir ein Messer zu. Ich machte keine Anstalten, es aufzufangen, und die Klinge schlug klirrend am Boden auf.
    »Du bist mehr als diese Krankheit, Matthew.« Ich stieg über den Dolch hinweg und stellte mich zu ihm. Wir waren uns so nahe, dass meine Röcke über seine Stiefel strichen. »Lass Vater Hubbard zu Kit.«
    »Nein.« Matthew blieb unnachgiebig.
    »Was würde Jack sagen, wenn er dich so sehen könnte?« Ich wollte erreichen, dass Matthew nicht durch eine stählerne Klinge, sondern durch den Stich seines Gewissens zur Vernunft gebracht wurde. »Du bist sein Held. Helden quälen ihre Feinde oder Verwandten nicht.«
    »Sie wollten dich umbringen!«, röhrte Matthews Stimme durch den kleinen Raum.
    »Sie waren im Alkohol- und Opiumrausch. Ihnen war nicht klar, was sie taten«, gab ich zurück. »Genauso wenig wie dir in diesem Augenblick, wenn ich das noch anfügen darf.«
    »Mach dir nichts vor. Beide wussten ganz genau, was sie taten. Kit wollte dich ohne alle Gewissensbisse aus dem Weg räumen, weil er glaubte, dass du seinem Glück im Wege stehst. Louisa ließ sich von den grausamen Gelüsten verführen, denen sie schon seit dem Tag nachgibt, an dem sie zur Vampirin wurde.« Matthew fuhr sich mit beiden Händen durchs Haar. »Und auch ich weiß genau, was ich hier tue.«
    »Ja – du bestrafst dich selbst. Du bist überzeugt, dass die Biologie über uns bestimmt, wenigstens wenn es um deine Anlage zum Blutrausch geht. Und darum glaubst du, dass du nicht anders bist als Louisa und Kit. Ein Irrer, genau wie sie. Ich wollte, dass du nicht länger deine Instinkte leugnest, Matthew, nicht dass du ihnen bedingungslos gehorchst.«
    Als ich diesmal einen Schritt auf Matthews Schwester zutrat, sprang sie mich fauchend und spuckend an.
    »Und das ist deine größte Angst: dass du irgendwann zum Tier werden könntest, das angekettet darauf wartet, immer wieder bestraft zu werden, weil es nichts anderes verdient hat.« Ich trat wieder zu ihm und legte die Hände auf seine Schultern. »Dieser Mann bist du nicht, Matthew, warst du nie.«
    »Ich habe dir schon einmal gesagt, dass du mich nicht verklären sollst«, erklärte er mir knapp. Mühsam löste er den Blick von meinem Gesicht, aber da hatte ich schon die Verzweiflung darin erkannt.
    »Also willst du mir hiermit etwas demonstrieren? Du willst mir immer noch beweisen, dass man dich nicht lieben darf?« Er presste die geballten Fäuste an seine Hüften. Ich griff danach, öffnete sie und legte sie flach auf meinen Bauch. »Berühr unser Kind, sieh mir in die Augen, und sage uns, ob es wirklich keine Hoffnung gibt, dass diese Geschichte anders endet.«
    Wie in der Nacht, als ich auf seinen Biss in meine Ader gewartet hatte, dehnte sich die Zeit ins Unendliche, während Matthew mit sich kämpfte. Und jetzt wie damals konnte ich nichts tun, um den Vorgang zu beschleunigen, und genauso wenig konnte ich ihm helfen, das Leben zu wählen statt den Tod. Er musste ohne meine Hilfe nach dem dünnen Faden der Hoffnung greifen.
    »Ich weiß es nicht«, gab er schließlich zu. »Früher wusste ich, dass die Liebe zwischen einem Vampir und einer Hexe falsch ist.

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