Wo die Nacht beginnt
reinste Chaos«, merkte ich an.
»Die letzte Nacht haben drei Vampire, zwei Hexen, ein Dämon, zwei Menschen und ein Hund unter diesem Dach verbracht. Du solltest neue Ideen nicht vorschnell verwerfen, Diana.« Mein Vater sah mich missbilligend an. »Danach werde ich wohl mit Catherine und Marjorie herumziehen. Heute Abend ist so gut wie jede Hexe unterwegs. Und die beiden wissen mit Sicherheit, wo am meisten los ist.« Offenbar hatte er inzwischen mit der halben Stadt Freundschaft geschlossen.
»Pass auf dich auf. Vor allem, wenn du mit Shakespeare zusammen bist, Daddy. Kein ›Wow‹ oder ›astrein gespielt, Shakespeare‹.« Mein Vater liebte es, Slang zu verwenden. Daran, behauptete er, erkenne man den Anthropologen.
»Wenn ich Will nur mitnehmen könnte, er wäre bestimmt ein cooler – entschuldige, Schätzchen – Kollege. Er hat Humor. Unsere Fakultät könnte jemanden wie ihn brauchen. Würde den Teig zum Gären bringen, wenn du verstehst, was ich meine.« Mein Vater rieb sich die Hände. »Und was habt ihr vor?«
»Noch nichts.« Ich sah Matthew an, der mit den Achseln zuckte.
»Ich dachte, ich könnte ein paar Briefe beantworten«, erklärte er zögernd. Die Post stapelte sich inzwischen zu alarmierenden Höhen.
»O Mann.« Mein Vater lehnte sich zurück und sah uns entsetzt an. »Ihr gehört doch hoffentlich nicht zu den Gelehrten, die nicht mehr zwischen Leben und Arbeit trennen können.« Er warf die Hände hoch, als wollte er die Pest abwehren. »Ich weigere mich zu glauben, dass meine Tochter so verbohrt ist.«
»Du übertreibst, Daddy«, erklärte ich steif. »Wir könnten den Abend mit dir zusammen verbringen. Ich habe noch nie geraucht. Und wenn Walter dabei ist, wäre es sogar ein historischer Moment, schließlich hat er den Tabak nach England gebracht.«
Daraufhin sah mich mein Vater noch entsetzter an. »Auf gar keinen Fall. Rauchen ist ein Akt des Male Bonding . Lionel Tiger meint …«
»Ich bin kein großer Fan von Tiger«, warf Matthew ein. »Das Prinzip des sozialen Karnivoren erschien mir nie schlüssig.«
»Können wir das Thema Menschenfresser für einen Moment vergessen und stattdessen darüber sprechen, warum du deinen letzten Abend nicht mit Matthew und mir verbringen willst?« Er hatte mich wirklich gekränkt.
»Darum geht es nicht, Schätzchen. Hilf mir, Matthew. Geh mit Diana aus. Dir muss doch etwas einfallen, was ihr tun könntet.«
»Rollerskaten vielleicht?« Matthew zog die Brauen hoch. »Im London des 16. Jahrhunderts gibt es kaum Rollschuhbahnen – genauso wie im 21. Jahrhundert, möchte ich hinzufügen.«
»Verdammt.« Mein Vater und Matthew hatten seit Tagen »kurze Mode gegen langfristigen Trend« gespielt. Mein Vater war zwar froh, dass weder Disco noch Schlaghosen Bestand haben würden, dafür entsetzte es ihn, dass über andere Dinge – wie den Trainingsanzug – im 21. Jahrhundert nur noch Witze gerissen wurden. »Ich gehe so gern Rollschuhlaufen. Rebecca und ich fahren zu einer Anlage in Dorchester, wenn wir ein paar Stunden lang Ruhe vor Diana haben wollen, und dann …«
»Wir gehen spazieren«, unterbrach ich ihn hastig. Mein Vater konnte unnötig freimütig in seinen Schilderungen sein, wie er und meine Mutter ihre freien Stunden verbrachten. »Spazieren. Ihr geht spazieren.« Mein Vater sah mich an. »Du meinst das wirklich so, wie du es sagst, oder?«
Er stieß sich vom Tisch ab. »Kein Wunder, dass die nichtmenschlichen Kreaturen aussterben wie der Dodo. Ihr geht jetzt aus. Alle beide. Und ich befehle euch, euch zu amüsieren.« Er schob uns zur Tür.
»Wie denn?«, fragte ich überrascht.
»Diese Frage sollte keine Tochter ihrem Vater stellen müssen. Wir feiern Sonnwende. Geht raus, und fragt irgendwen auf der Straße, was ihr unternehmen sollt. Oder besser noch, nehmt euch ein Beispiel an den anderen. Heult den Mond an. Zaubert. Oder knutscht wenigstens ein bisschen. Ich komme erst gegen Sonnenaufgang wieder, ihr braucht also nicht zu warten. Am besten bleibt ihr auch die ganze Nacht weg. Jack ist bei Tommy Harriot. Annie bei ihrer Tante. Pierre ist – keine Ahnung, wo Pierre steckt, aber der braucht auch keinen Babysitter. Wir sehen uns beim Frühstück.«
»Seit wann nennst du Thomas Harriot ›Tommy‹?«, fragte ich. Mein Vater tat so, als hätte er mich nicht gehört.
»Gib mir einen Kuss, bevor ihr geht. Und vergesst nicht, euch zu amüsieren, okay?« Er schloss mich in die Arme. »Wir sehen uns auf der anderen Seite,
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