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Wo die Nacht beginnt

Wo die Nacht beginnt

Titel: Wo die Nacht beginnt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Deborah Harkness
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Baby.«
    Stephen schob uns aus der Tür und drückte sie vor unserer Nase zu. Ich streckte die Hand nach dem Riegel aus und landete dabei im kühlen Griff eines Vampirs.
    »Er wird uns in ein paar Stunden verlassen, Matthew.« Ich griff nach der Tür. Matthew hielt meine andere Hand ebenfalls fest.
    »Ich weiß das. Er auch«, erklärte Matthew.
    »Dann sollte er auch verstehen, dass ich mehr Zeit mit ihm verbringen will.« Ich starrte die Tür an und wünschte mit aller Kraft, dass mein Vater sie öffnen möge. Ich sah die Stränge, die in der Maserung des Holzes verschwanden und zu dem Hexer dahinter führten. Einer der Stränge riss und schnalzte wie ein Gummiband gegen meinen Handrücken. Mir stockte der Atem. »Daddy!«
    »Zieh ab, Diana!«, rief er nur.
    Matthew und ich wanderten durch die Stadt und schauten zu, wie die Läden schlossen und die Feiernden in die Pubs strömten. Mehrere Metzger stapelten wie beiläufig Knochen neben der Tür auf. Alle waren weiß und sauber, als wären sie ausgekocht worden.
    »Wozu sind die Knochen da?«, fragte ich Matthew, nachdem wir an der dritten derartigen Auslage vorbeigekommen waren.
    »Die sind für die Knochenfeuer.«
    »Kochfeuer?«
    »Nein«, verbesserte Matthew, »die Knochenfeuer. Traditionellerweise feiern die Menschen die Sommersonnwende, indem sie Feuer anzünden: Knochenfeuer, Holzfeuer oder gemischte Feuer. Jedes Jahr mahnt der Bürgermeister, von derlei abergläubischen Bräuchen Abstand zu nehmen, aber die Menschen lassen sich nicht davon abbringen.«
    Matthew spendierte mir ein Dinner im berühmten Belle Savage Inn knapp außerhalb von Blackfriars in Ludgate Hill. Das Belle Savage war keine schlichte Schenke, sondern ein Unterhaltungspalast, in dem Schauspiele und Fechtkämpfe aufgeführt wurden – ganz zu schweigen von Marocco, jenem berühmten Pferd, das die Jungfrauen im Publikum erschnupperte. Es war kein Rollerskatepalast in Dorchester, aber es war dicht dran.
    Sämtliche Halbwüchsigen des Viertels schienen mit uns unterwegs zu sein, zogen von einem Wasserloch zum nächsten und traktierten sich dabei gegenseitig mit Beleidigungen und Anzüglichkeiten. Tagsüber arbeiteten fast alle schwer, und nicht einmal abends hatten sie frei, denn man erwartete von ihnen, dass sie den Laden und das Haus hüteten, auf die Kinder ihrer Lehrherren aufpassten, Wasser und Essen holten und Hunderte anderer kleiner Arbeiten erledigten, die in einem Haushalt der Frühmoderne anfielen. Doch heute Abend gehörte London ihnen, und das nutzten sie nach Kräften aus.
    Wir gingen durch Ludgate zurück und näherten uns bereits Blackfriars, als die Glocken neun Uhr schlugen. Zu dieser Stunde machten die Wachen ihre Runde, und eigentlich sollten jetzt alle nach Hause zurückkehren, aber heute Abend schienen die Regeln nicht zu gelten. Zwar war die Sonne schon vor einer Stunde untergegangen, aber der Mond war fast voll, und der Mondschein lag hell in den Straßen.
    »Können wir noch ein bisschen spazieren gehen?«, fragte ich. Immer waren wir irgendwohin unterwegs – nach Baynard’s Castle, um Mary zu sehen, nach St. James Garlickhythe, um uns mit dem Zirkel zu treffen, nach St. Paul’s, um auf dem Kirchhof nach Büchern zu stöbern. Noch nie waren Matthew und ich ziellos durch die Stadt geschlendert.
    »Ich wüsste nicht, was dagegen spricht, schließlich hat man uns befohlen, uns zu amüsieren«, sagte Matthew. Er neigte den Kopf und stahl mir einen Kuss.
    Wir spazierten am Westtor von St. Paul’s vorbei, wo sich trotz der späten Stunde die Menschen drängten, und von dort aus über den Kirchhof nach Norden. Auf diese Weise gelangten wir auf die Cheapside, Londons breiteste Geschäftsstraße, wo die Goldschmiede ihrem Gewerbe nachgingen. Wir umrundeten den Brunnen an Cheapside Cross, den eine Meute grölender Jungen zum Paddelteich zweckentfremdet hatte, und wandten uns von dort aus nach Osten. Matthew ging mit mir die Route von Anne Boleyns Krönungszug ab und zeigte mir das Haus, in dem Geoffrey Chaucer seine Kindheit verbracht hatte. Ein paar Händler forderten Matthew auf, mit ihnen zu kegeln. Aber sie verscheuchten ihn mit lauten Buhrufen, nachdem er zum dritten Mal hintereinander alle Neune gekegelt hatte.
    »Freust du dich, dass du es wieder mal allen gezeigt hast?«, neckte ich ihn, als er den Arm um mich legte und mich an seine Seite zog.
    »Und wie«, sagte er. Er deutete auf eine Straßengabelung. »Schau.«
    »Die Londoner Börse!« Ich sah ihn aufgeregt an.

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