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Wo die Nacht beginnt

Wo die Nacht beginnt

Titel: Wo die Nacht beginnt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Deborah Harkness
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gerieten wir in feines Schneetreiben. Gallowglass’ Bart färbte sich weiß und verwandelte ihn in eine ziemlich gute Nikolaus-Kopie. Pierre richtete auf seinen Befehl hin die Segel neu aus, und wenig später zeigte sich in einem grauweißen Streifen die französische Küste. Keine dreißig Minuten später begann die Flut auf den Strand zuzurollen. Das Boot wurde von den Wogen in Richtung Land getragen, und hinter dem Dunst stach ein Kirchturm durch die Wolken. Er wirkte überraschend nah, denn das Kirchenschiff war in der diesigen Luft nicht zu sehen. Ich schnappte nach Luft.
    »Festhalten«, sagte Gallowglass grimmig, während Pierre das Segel losließ.
    Das Boot schoss durch den Dunst. Die Schreie der Möwen und das Branden der Wellen gegen den Fels verrieten mir, dass wir dicht an der Küste waren, trotzdem wurden wir nicht langsamer. Plötzlich rammte Gallowglass ein Ruder in die Wellen und drehte das Boot scharf ab. Ich hörte einen Warn- oder Begrüßungsruf.
    »Il est le chevalier de Clermont!« , rief Pierre zurück, die Hände als Trichter vor dem Mund. Auf seinen Ruf hin wurde es erst still, dann hörten wir hastiges Getrappel.
    »Gallowglass!« Wir steuerten geradewegs auf eine Mauer zu. Ich stürzte mich auf ein im Boot liegendes Ruder, um die sichere Katastrophe abzuwehren. Doch kaum hatten sich meine Finger darum geschlossen, da riss Matthew es mir aus der Hand.
    »Er legt seit Jahrhunderten an dieser Stelle an, und seine Vorfahren tun es noch länger«, erklärte Matthew ganz ruhig, das Ruder locker in den Händen haltend. Gegen jede Wahrscheinlichkeit schwenkte der Bug des Bootes ein weiteres Mal nach links, und der Rumpf glitt längsseits an ein paar Quader aus grob behauenem Granit. Hoch über uns erschienen vier Männer mit Haken und Tauen, die das Boot an die Mauer zogen und festhielten. Der Wasserspiegel hob sich beängstigend schnell und trug das Boot nach oben, bis wir auf einer Höhe mit einem kleinen Steinhaus waren. Von dort aus wand sich eine schmale Treppe nach oben ins Nichts. Pierre sprang an Land, sprach leise und schnell auf die Männer ein und deutete dabei auf das Boot. Zwei bewaffnete Soldaten stießen zu uns, die gleich darauf voraus zu der Treppe eilten.
    »Wir haben Mont Saint-Michel erreicht, Madame.« Pierre reichte mir die Hand. Ich ergriff sie und stieg an Land. »Ihr werdet hier warten, während Milordmit dem Abt spricht.«
    Mein Wissen über die Insel beschränkte sich auf das, was mir Freunde erzählt hatten, die jeden Sommer die Isle of Wight umsegelten: dass sie bei Ebbe von Treibsand umgeben und bei Springflut von gefährlichen Strömungen umspült war, die oft die Schiffe gegen die Felsen schleuderten. Ich schaute über die Schulter auf unser winziges Boot und schauderte. Es war ein Wunder, dass wir noch am Leben waren.
    Während ich mich zu orientieren versuchte, betrachtete Matthew nachdenklich seinen Neffen, der reglos im Bug stand. »Es wäre sicherer für Diana, wenn du mitkommen würdest.«
    »Solange deine Freunde sie nicht in Schwierigkeiten bringen, scheint deine Gemahlin sehr gut auf sich selbst aufpassen zu können.« Gallowglass sah lächelnd zu mir auf.
    »Philippe wird nach dir fragen.«
    »Sag ihm …« Gallowglass verstummte und schaute in die Ferne. »Sag ihm, ich kann noch nicht vergessen.«
    »Du musst um seinetwillen versuchen zu verzeihen«, antwortete Matthew leise.
    »Verzeihen werde ich niemals können«, sagte Gallowglass kühl, »und Philippe würde das auch nie von mir verlangen. Mein Vater starb durch die Franzosen, und nicht ein einziges Geschöpf widersetzte sich dabei dem König. Erst wenn ich mit der Vergangenheit Frieden geschlossen habe, kann ich wieder französischen Boden betreten.«
    »Hugh ist von uns gegangen, Gott sei seiner Seele gnädig. Dein Großvater weilt noch unter uns. Verschenke nicht die Zeit, die dir mit ihm bleibt.« Matthew stieg an Land. Ohne ein Wort des Abschieds drehte er Gallowglass den Rücken zu, nahm mich am Ellbogen und führte mich auf ein armseliges Grüppchen von kahlen Bäumen zu. Ich spürte Gallowglass’ kühlen, schweren Blick, drehte mich noch einmal um und blickte dem Gälen tief in die Augen. Seine Hand hob sich in einem stummen Gruß.
    Matthew schwieg, während wir auf die Treppe zugingen. Ich konnte nicht erkennen, wohin sie führte, und hörte schon bald auf, die Stufen zu zählen. Stattdessen konzentrierte ich mich darauf, nicht auf den abgetretenen, glitschigen Steinen auszurutschen.

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