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Wo die Nacht beginnt

Wo die Nacht beginnt

Titel: Wo die Nacht beginnt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Deborah Harkness
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sprangen auf ihr mütterliches Erbe an – was Rima nicht überraschte, denn schließlich hatte sie ihrer Mutter und deren Abstammung von einem Berberstamm die weichen Kurven, den warmen Hautton und die mandelförmigen Augen zu verdanken. Immer wieder hatte Daniel anzügliche Kommentare abgegeben und wie zufällig über ihren Hintern gestrichen, wenn sie in den Postraum gekommen war, und seit Jahren glotzte er auf ihre Brüste. Dass er eine gute Handbreit kleiner war als sie und doppelt so alt, schien ihn nicht zu stören.
    » Estoy muy ocupada«, erwiderte Rima.
    Daniel grunzte, um zu zeigen, dass er das bezweifelte. Im obersten Karton lag ein vermoderter Pelzmuff neben einem ausgestopften Zaunkönig, der auf einem Kiefernast saß. Daniel schüttelte den Kopf, als könnte er es nicht fassen, dass sie ihre Zeit lieber mit toten Tieren als mit ihm verbrachte.
    » Gracias«, murmelte Rima, als er verschwand. Sie klappte sanft das Buch zu und legte es auf den Schreibtisch zurück.
    Während Rima den Inhalt des Kartons auf einem Tisch auslegte, sah sie noch einmal zu dem Bändchen mit dem schlichten Ledereinband hinüber. Würde in vierhundert Jahren auch von ihrem Leben nicht mehr übrig sein als eine Seite aus ihrem Kalender, eine Einkaufsliste und ein Zettel mit dem Rezept ihrer Großmutter für Alfajores , alles in einem Karton mit der Aufschrift »anonym, ohne weitere Bedeutung«,der vergessen in einem Archiv vermodern würde, das nie jemand aufsuchte?
    So düstere Gedanken brachten bestimmt Unglück. Schaudernd legte Rima einen Finger auf das handförmige Amulett der Prophetentochter Fatima. Es hing an einem Lederband um ihren Hals und wurde seit Urzeiten von den Frauen ihrer Familie weitervererbt.
    »Khamsa fi ainek«, flüsterte sie und hoffte, dass sie damit all die bösen Geister vertrieb, die sie unwissentlich heraufbeschworen hatte.

Zweiter Teil
    Sept-Tours
und das Dorf Saint-Lucien

8
    A m üblichen Fleck?«, fragte Gallowglass leise, während er die Ruder ablegte und das einsame Segel hisste. Bis Sonnenaufgang waren es noch mehr als vier Stunden, trotzdem zeichneten sich in der Dunkelheit weitere Boote ab. Ich erkannte die schemenhaften Umrisse eines Segels und sah am Bug eines nahen Schiffes eine Laterne baumeln.
    »Walter sagte, wir würden in Saint-Malo landen.« Ich drehte verblüfft den Kopf. Raleigh hatte uns von der Old Lodge nach Portsmouth begleitet und das Schiff gelotst, das uns nach Guernsey gebracht hatte. Auf dem Pier von Saint-Pierre-Port hatten wir ihn zurückgelassen. Weiter konnte er uns nicht begleiten – immerhin war auf dem katholischen Festland ein Kopfgeld auf ihn ausgesetzt.
    »Ich weiß sehr wohl, wohin Raleigh mich schicken wollte, Tantchen, aber er ist ein Pirat. Und Engländer. Und er ist nicht hier. Darum frage ich lieber Matthew.«
    » Immensi tremor oceani«, flüsterte Matthew, den Blick auf die wogende See gerichtet. Wie er so auf das schwarze Wasser starrte, erinnerte er in seiner Körperhaltung an eine düstere Galionsfigur. Und seine Antwort auf die Frage seines Neffen blieb rätselhaft – das Beben des unermesslichen Ozeans. Ich fragte mich, ob ich ihn vielleicht falsch verstanden hatte.
    »Wir können die Flut nutzen, und es ist von dort aus ein kürzerer Ritt nach Fougères als von Saint-Malo«, fuhr Gallowglass fort, als hätte er verstanden, was Matthew sagen wollte. »Bei diesem Wetter wird sie auf See auch nicht mehr frieren als an Land, und sie wird noch lange genug reiten müssen.«
    »Und du wirst uns verlassen.« Es war eine Feststellung, keine Frage. Matthews Lider senkten sich. Er nickte. »Nun denn.«
    Gallowglass trimmte das Segel, und das Boot drehte von seinem Südkurs nach Osten ab. Matthew saß auf dem Deck, den Rücken an die gekrümmten Spanten gelehnt, und zog mich in seine Arme, sodass ich im Schutz seines Umhangs saß.
    So zu schlafen war unmöglich, doch immerhin konnte ich an Matthews Brust ein wenig dösen. Bisher war es eine überaus anstrengende Reise gewesen, auf der wir die Pferde bis ans Ende ihrer Kräfte getrieben und die Boote einfach konfisziert hatten. Auf See war es so kalt, dass sich auf der englischen Wolle unserer Kleider Raureif bildete. Gallowglass und Pierre unterhielten sich die ganze Zeit in einem unverständlichen französischen Dialekt, doch Matthew nahm nicht an ihrem Gespräch teil. Er beantwortete ihre Fragen, behielt aber seine Gedanken hinter einer geradezu unheimlich starren Miene für sich.
    In der Morgendämmerung

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