Wo die Nacht beginnt
Eisschollen platzten von meinem Rocksaum, und der Wind pfiff in meine weite Kapuze. Dann öffnete sich vor uns eine massive Tür mit schweren Eisenbändern, die von der salzigen Luft angefressen und mit Rost überzogen waren.
Noch mehr Stufen. Ich presste die Lippen zusammen, hob die Röcke an und marschierte weiter.
Noch mehr Soldaten. Sobald wir uns näherten, drückten sie sich an die Wand, um uns passieren zu lassen. Matthews Finger spannten sich ein bisschen fester um meinen Ellbogen, aber ansonsten hätten die Männer unsichtbar sein können, so wenig Aufmerksamkeit schenkte er ihnen.
Wir betraten einen Raum, dessen Gewölbedach von einem ganzen Säulenwald getragen wurde. Riesige Kamine waren in die Wände eingelassen und spendeten angenehme Wärme. Ich seufzte erleichtert auf und schüttelte meinen Umhang aus, dass Wasser und Eis in alle Richtungen spritzten. Im selben Augenblick hörte ich ein dezentes Husten und bemerkte einen Mann, der vor einem der lodernden Kaminfeuer stand. Er trug den roten Ornat eines Kardinals und sah aus wie Ende zwanzig – schrecklich jung für jemanden, der so weit oben in der katholischen Hierarchie stand.
»Ah, Chevalier de Clermont . Oder sollen wir Euch inzwischen anders nennen? Ihr wart schon lange nicht mehr in Frankreich. Vielleicht habt Ihr nicht nur Walsinghams Namen, sondern auch sein Amt übernommen, nachdem er endlich in der Hölle schmort, wo er hingehört.« Der Kardinal sprach mit schwerem Akzent, doch sein Englisch war fehlerfrei. »Wir haben auf Anweisung des Seigneur seit drei Tagen nach Euch Ausschau gehalten. Von einer Frau war nicht die Rede.«
Matthew ließ meinen Arm los und trat einen Schritt vor. Er beugte geschmeidig ein Knie und küsste den Ring an der ausgestreckten Hand des Mannes. »Éminence . Ich dachte, Ihr weilt in Rom und wählt den neuen Papst. Ihr könnt Euch meine Freude ausmalen, Euch hier vorzufinden.« Matthew klang ganz und gar nicht freudig. Ich fragte mich voller Sorge, worauf wir uns eingelassen hatten, als wir nicht, wie von Walter geplant, in Saint-Malo, sondern in Mont Saint-Michel an Land gegangen waren.
»Gegenwärtig braucht mich Frankreich dringender als das Konklave. Die jüngsten Morde an Königen und Königinnen gefallen Gott gar nicht.« In den Augen des Kardinals glomm eine Warnung auf. »Das wird Elisabeth schon bald feststellen, wenn sie ihm gegenübertritt.«
»Ich bin nicht als Gesandter Englands hier, Kardinal Joyeuse. Dies ist meine Gemahlin Diana.« Matthew hielt die schmale Silbermünze seines Vaters zwischen Zeige- und Mittelfinger. »Ich kehre heim.«
»So hat man mir berichtet. Euer Vater hat dies gesandt, um Eure sichere Heimreise zu gewährleisten.« Joyeuse warf Matthew ein glänzendes Objekt zu, das dieser mühelos auffing. »Offenbar hat Philippe de Clermont seinen Stand vergessen und glaubt inzwischen, er wäre König von Frankreich.«
»Mein Vater braucht nicht selbst zu regieren, denn er ist das scharfe Schwert, das einen König stürzen oder stützen kann«, erwiderte Matthew nachsichtig. Er schob den schweren Goldring über dem Handschuh auf den Mittelfinger. Ein geschliffener roter Stein war darin eingelassen. Ich war überzeugt, dass in den Ring jenes Muster eingekerbt war, das ich auf dem Rücken trug. »Eure Herren wissen genau, dass Frankreich für die katholische Kirche verloren wäre, wenn es meinen Vater nicht gäbe. Sonst wärt Ihr nicht hier.«
»Wenn ich an den Protestanten denke, der zurzeit auf dem Thron sitzt, wäre es vielleicht für alle Beteiligten das Beste, wenn der Seigneur tatsächlich unser König wäre. Aber dieses Thema sollten wir unter vier Augen diskutieren«, meinte Kardinal Joyeuse müde. Er winkte einem Diener, der neben der Tür im Schatten stand. »Bring die Gemahlin des Chevalier auf ihr Zimmer. Entschuldigt uns, Madame . Euer Gemahl hat sich zu lange unter Häretikern aufgehalten. Er wird länger auf kalten Steinen knien müssen, um sich wieder ins Gedächtnis zu rufen, wer er wirklich ist.«
Offenbar war mir anzusehen, wie ungern ich an einem solchen Ort allein blieb.
»Pierre ist bei dir«, versicherte mir Matthew, bevor er sich vorbeugte und seine Lippen auf meine drückte. »Wir reiten los, sobald die Gezeiten wechseln.«
Das war mein letzter Blick auf Matthew Clairmont, den Wissenschaftler. Der Mann, der danach auf die Tür zuschritt, war kein Oxford-Gelehrter mehr, sondern ein Renaissanceprinz. Das zeigte sich in seiner Haltung und seinen
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