Wo die Nacht beginnt
durchgestreckten Schultern, in der kontrollierten Kraft, die von ihm ausstrahlte, und in seinem kühlen Blick. Hamish hatte mich zu Recht gewarnt, dass Matthew hier ein anderer wäre als in unserer Zeit. Unter Matthews unveränderlichem Äußeren vollzog sich eine grundlegende Metamorphose.
Irgendwo hoch über uns schlugen die Glocken.
Wissenschaftler. Vampir. Krieger. Spion. Die Glocken verharrten vor dem letzten Schlag.
Prinz.
Ich rätselte, was unsere Reise wohl noch alles über den komplexen Mann enthüllen würde, den ich geheiratet hatte.
»Wir wollen Gott nicht warten lassen, Kardinal Joyeuse«, erklärte Matthew scharf. Joyeuse folgte ihm gehorsam, so als gehörte die Abtei von Mont Saint-Michel nicht der Kirche, sondern den de Clermonts.
Neben mir atmete Pierre sachte aus. » Milord est lui-même «, murmelte er erleichtert.
Milord ist wieder er selbst. Aber war er immer noch der meine?
Matthew war vielleicht ein Prinz, aber es konnte kein Zweifel daran bestehen, wer König war.
Mit jedem Schritt, den die Pferdehufe auf den gefrorenen Straßen zurücklegten, wuchsen Macht und Einfluss von Matthews Vater. Je näher wir Philippe de Clermont kamen, desto unnahbarer und herrischer benahm sich sein Sohn – eine Kombination, die mir ausgesprochen unangenehm war und zu mehreren hitzigen Wortgefechten führte. Nachdem sein Zorn abgekühlt war, entschuldigte sich Matthew jedes Mal für sein herablassendes Verhalten, und da ich genau wusste, unter welchem Stress er so kurz vor dem Wiedersehen mit seinem Vater stand, vergab ich ihm.
Nachdem wir bei Ebbe das Watt rund um Mont Saint-Michel durchquert hatten und ins Landesinnere geritten waren, hießen uns Verbündete der de Clermonts in der Stadt Fougères willkommen und brachten uns in einem eigens dafür eingerichteten Wachturm in der Stadtmauer unter, von dem aus man freien Blick auf die französische Landschaft hatte. Zwei Abende später erwarteten uns Fußsoldaten mit Fackeln auf der Landstraße vor der Stadt Baugé. Auf ihrer Uniform prangte ein vertrautes Wappen: Philippes Insignien des Kreuzes mit Halbmond.
»Wo sind wir hier?«, fragte ich, nachdem uns die Soldaten zu einem verlassenen Château geführt hatten. Für einen leer stehenden Bau war es überraschend warm, und durch die langen Gänge wehte der köstliche Duft von frisch gekochtem Essen.
»Das Haus eines alten Freundes.« Matthew zerrte mir die Schuhe von den halb erfrorenen Füßen. Seine Daumen bohrten sich in meine tauben Sohlen, und ich stöhnte auf, als das Blut in meine Gliedmaßen zurückströmte. Pierre drückte mir einen Becher mit Glühwein in die Hände. »Früher war das Renés liebstes Jagdschloss. Es war so voller Leben, wenn er hier war und in jedem Raum Künstler oder Gelehrte saßen. Jetzt leitet es mein Vater. Unter den fortwährenden Kriegen hatten wir keine Möglichkeit, dem Schloss die gebührende Aufmerksamkeit zu schenken.«
Noch in der Old Lodge hatten Matthew und Walter mich über die Kämpfe zwischen französischen Protestanten und Katholiken um die Krone – und das Land – aufgeklärt. In Fougères hatte ich von unserem Fenster aus die Rauchsäulen sehen können, die über dem Heerlager der Protestanten standen, und unterwegs waren wir immer wieder an niedergebrannten Häusern oder Kirchen vorbeigekommen. Ich war entsetzt über das Ausmaß der Zerstörung.
Wegen des Bürgerkrieges musste auch meine imaginäre Vergangenheit überarbeitet werden. In England war ich eine Protestantin französischer Abstammung gewesen, die aus ihrem Heimatland geflohen war, um ihr Leben zu retten und ihren Glauben ausüben zu können. Hier war es unabdingbar, dass ich als vertriebene englische Katholikin auftrat. Irgendwie schaffte es Matthew, all die Lügen und Halbwahrheiten im Gedächtnis zu behalten, mit denen wir unsere vielen Identitäten ausschmückten, ganz zu schweigen von den historischen Besonderheiten jedes Ortes, den wir durchreisten.
»Wir sind jetzt im Anjou.« Matthews tiefe Stimme riss mich aus meinen Gedanken. »Wenn du englisch sprichst, wird dich hier jeder für eine protestantische Spionin halten, ganz gleich, was wir den Leuten erzählen. In diesem Teil des Landes weigert man sich, den Anspruch des Königs auf den Thron anzuerkennen, hier hätte man viel lieber einen katholischen Regenten.«
»Wie Philippe«, murmelte ich. Nicht nur Kardinal Joyeuse profitierte von Philippes Einfluss. Unterwegs hatten uns immer wieder hohlwangige Katholiken mit
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