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Wo die Nacht beginnt

Wo die Nacht beginnt

Titel: Wo die Nacht beginnt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Deborah Harkness
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ängstlichen Augen angehalten, um mit uns zu reden, Neuigkeiten mitzuteilen oder um Matthews Vater für seine Unterstützung zu danken. Keiner war mit leeren Händen weitergezogen.
    »Er interessiert sich nicht für die Feinheiten des christlichen Glaubens. In anderen Landesteilen unterstützt mein Vater die Protestanten.«
    »Das ist eine bemerkenswert ökumenische Einstellung.«
    »Philippe ist einzig und allein daran interessiert, Frankreich vor sich selbst zu schützen. Erst im letzten August versuchte unser neuer König, Heinrich von Navarra, der Stadt Paris seine religiösen und politischen Überzeugungen aufzuzwingen. Die Pariser wollten lieber verhungern, als sich einem protestantischen König zu beugen.« Matthew fuhr sich mit den Fingern durchs Haar, so wie immer, wenn ihn etwas erschütterte. »Damals starben Tausende, und seither ist mein Vater nicht mehr überzeugt, dass die Menschen allein aus diesem Chaos herausfinden.«
    Philippe war aber auch nicht bereit, seinen Sohn seine Angelegenheiten eigenständig regeln zu lassen. Pierre weckte uns noch vor dem Morgengrauen und verkündete, dass frische Pferde bereitständen. Er hatte Nachricht erhalten, dass wir in einer mehr als hundert Meilen entfernten Stadt erwartet würden – und zwar schon in zwei Tagen.
    »Das ist doch unmöglich! So schnell können wir nicht reiten!« Ich war körperlich fit, aber kein moderner Sport konnte es mit einem Ritt von gut fünfzig Meilen über offenes Land aufnehmen – noch dazu im November.
    »Wir haben kaum eine Wahl«, erklärte Matthew grimmig. »Wenn wir uns verspäten, schickt er nur noch mehr Männer, um uns anzutreiben. Wir sollten lieber tun, was er von uns verlangt.« Später am Tag, als mir vor Erschöpfung fast die Tränen kamen, hob Matthew mich wortlos auf seinen Sattel und ritt mit mir zusammen weiter, bis die Pferde nicht mehr laufen konnten. Ich war zu müde, um noch zu protestieren.
    Wir erreichten die Steinmauern und Fachwerkhäuser von Saint-Benoît pünktlich, so wie Philippe es befohlen hatte. Inzwischen waren wir Sept-Tours so nahe, dass weder Pierre noch Matthew sich noch um Sitten und Anstandsregeln scherten und ich im Herrensitz reiten konnte. Obwohl wir uns an Philippes Zeitplan hielten, schickte er uns einen Gesandten nach dem anderen, die uns allesamt begleiteten, so als fürchtete er, wir könnten im letzten Moment unsere Meinung ändern und nach England zurückkehren. Manche folgten uns in kurzem Abstand. Andere ritten voraus und sorgten für Essen, Pferde und freie Betten in überfüllten Gaststätten, abgelegenen Häusern oder verbarrikadierten Klöstern. Als wir schließlich die felsigen Hügel erklommen, die von den lange erloschenen Vulkanen der Auvergne übrig geblieben waren, entdeckten wir auf den nackten Kuppen um uns herum immer wieder Reitersilhouetten. Sobald sie uns sahen, drehten sie ab, um in Sept-Tours Bericht zu erstatten.
    Zwei Tage später hielten Matthew, Pierre und ich auf einem dieser zerklüfteten Gipfel an und blickten auf das Familienschloss der de Clermonts, das schemenhaft durch das Schneetreiben auszumachen war. Die geraden Mauern des Hauptbaus waren mir vertraut, aber abgesehen davon hätte ich das Château nicht wiedererkannt. Die Burgmauern waren noch intakt, genau wie alle sechs Rundtürme, jeweils gekrönt von konischen Kupferdächern, welche die Zeit zu einem sanften Flaschengrün verfärbt hatte. Rauch stieg aus den Schornsteinen, die hinter den Turmzinnen versteckt waren. Die schartige Silhouette wirkte, als hätte ein durchgedrehter Riese die Mauern mit einer Zackenschere bearbeitet. Innerhalb der Umfriedung lagen ein schneebedeckter Garten und dahinter rechteckige Beete.
    Schon in meiner Zeit hatte die Festung abweisend gewirkt. Jetzt, inmitten eines Religions- und Bürgerkrieges, waren die Verteidigungsanlagen noch massiver. Ein mächtiges Torhaus stand zwischen Sept-Tours und dem Dorf Wache. Ich sah Menschen darin umhereilen, viele bewaffnet. Wenn ich durch die Schneeflocken und das fahle Licht spähte, konnte ich in dem ummauerten Innenhof Holzbauten ausmachen. Die Lichter hinter den winzigen Fenstern schufen Inseln von warmer Farbe in der ansonsten monotonen Fläche von grauem Stein und schneebedecktem Boden.
    Meine Stute schnaufte erschöpft eine Dampfwolke aus. Seit dem Beginn unserer Reise hatte ich kein so gutes Pferd geritten wie sie. Matthew saß zurzeit auf einem großen, tintenschwarzen, unwilligen Tier, das nach jedem schnappte, der in seine

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