Wo die Nacht beginnt
Reise nach Sept-Tours konnte es leicht verlorengehen, und ich wollte, dass mein Tagebuch vor neugierigen Blicken geschützt blieb. Ich bückte mich und hob ein paar Rosmarin- und Lavendelzweige auf. Dann setzte ich mich an Matthews Schreibtisch, wählte einen Federkiel und einen Tintentopf und nahm einen letzten Eintrag vor.
5. November 1590 kalter Regen
Neuigkeiten von daheim. Wir bereiten die Abreise vor.
Nachdem ich vorsichtig auf das Papier geblasen hatte, um die Tinte zu trocknen, schob ich die Rosmarin- und Lavendelzweige zwischen die Seiten. Meine Tante verwendete Rosmarinzweige bei Gedächtniszaubern und Lavendel, wenn sie ihre Liebeszauber mit einer leisen Mahnung versehen wollte – eine passende Kombination für unsere augenblickliche Situation.
»Wünsch uns Glück, Sarah«, flüsterte ich und schob das schmale Bändchen am Ende eines Fachs ins Regal, in der Hoffnung, dass es noch da wäre, falls ich irgendwann zurückkehren sollte.
7
R ima Jaén hasste den November. Die Tage wurden immer kürzer, gaben ihren Kampf gegen die Düsternis immer ein paar Minuten früher auf. Und Sevilla war um diese Zeit kein angenehmer Ort, schließlich bereitete sich die ganze Stadt auf den Winter vor, und jeder rechnete täglich mit Regen. Der ohnehin unberechenbare Fahrstil der Einwohner schien mit jeder Stunde chaotischer zu werden.
Seit Wochen saß Rima an ihrem Schreibtisch fest, weil ihr Chef beschlossen hatte, das Lager auf dem Speicher aufzulösen. Bereits im letzten Winter war der Regen durch die uralten, gesprungenen Dachziegel des baufälligen Hauses gesickert, und für die nächsten Monate verhieß die Wettervorhersage Schlimmes. Sie hatten kein Geld, um das Problem zu beheben, und so schleppte der Hausmeister einen schimmligen Karton nach dem anderen die Treppe herunter, um sicherzustellen, dass bei zukünftigen Gewittern nichts Wertvolles Schaden nehmen würde. Bereits Beschädigtes wurde so diskret aus dem Haus geschafft, dass kein möglicher Spender Verdacht schöpfen konnte.
Die Bibliothek war ein kleines, hochspezialisiertes Archiv mit knappen Ressourcen. Den Grundstock des Bestands hatte eine berühmte andalusische Familie gestiftet, deren Angehörige ihren Stammbaum bis zur Reconquista zurückverfolgen konnten, während der die Christen die Halbinsel von den muslimischen Kriegern zurückeroberten, die hier seit dem achten Jahrhundert geherrscht hatten. Nur wenige Gelehrte fanden einen Anlass, die bizarre Zusammenstellung an Büchern und Objekten zu durchstöbern, welche die Gonçalvez im Lauf der Jahre angesammelt hatten. Die meisten Forscher saßen weiter unten an der Straße im Archivo General de Indias und diskutierten über Kolumbus. Die Sevillaner selbst wollten in ihren Büchereien den neuesten Krimi finden, keine zerfledderten Jesuiten-Handbücher aus dem 18. Jahrhundert oder Frauenmodemagazine aus dem 19.
Rima griff nach dem schmalen Bändchen, das am Rand ihres Schreibtisches lag, und zog die Brille mit dem bunten Gestell von der Stirn, die bis dahin die schwarzen Haare zurückgehalten hatte. Das Buch war ihr schon vor einer Woche aufgefallen, als einer der Helfer unter missmutigem Grunzen eine Holzkiste vor ihrem Schreibtisch hatte fallen lassen. Bislang hatte sie es unter dem Titel Gonçalve Manuskript 4890 eingetragen und dazu erläutert: »Englisches Journal, spätes 16. Jahrhundert.« Wie die meisten Journale war es größtenteils leer. Ein spanisches Exemplar hatte Rima gesehen, geführt von einem Gonçalve-Erben, der 1628 an die Universität von Sevilla geschickt worden war. Es war fein gebunden gewesen, liniert und mit kunstvoll geschwungenen, mehrfarbigen Seitenzahlen paginiert, allerdings hatte kein einziges Wort darin gestanden. Auch in der Vergangenheit waren die Menschen nicht immer ihren Erwartungen gerecht geworden.
Journale wie dieses dienten dazu, Bibelstellen, Gedichtstrophen, Denksprüche oder Zitate klassischer Autoren festzuhalten. Typischerweise enthielten sie auch Kritzeleien und Einkaufslisten oder unanständige Liedtexte, vermischt mit kurzen Anmerkungen über merkwürdige oder wichtige Ereignisse. Dieses Journal war jedoch anders. Leider hatte jemand die erste Seite herausgerissen. Früher hatte dort wohl der Name des Besitzers gestanden. Ohne diese Seite war es praktisch unmöglich herauszufinden, wer das Buch geführt hatte oder welche Personen sich hinter den Initialen verbargen, die darin aufgeführt waren. Historiker interessierten sich kaum für diese
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