Wo die Nacht beginnt
konnte. »Ich habe meinen besten Assistenten verloren, aber das bedeutet den Engländern nicht das Geringste! Milord hat einen empfindlichen Magen, man muss ihn zum Essen verführen, sonst zehrt er aus.«
Ich entschuldigte mich für alle Engländer und fragte ihn, wie wir gemeinsam Matthews Gesundheit wiederherstellen könnten, obwohl mich der Gedanke, dass mein Ehemann noch vitaler werden könnte, erschreckte. »Er mag rohen Fisch, nicht wahr, und Wildbret?«
»Milord braucht Blut. Und das nimmt er nur zu sich, wenn es auf den Punkt zubereitet ist.«
Der Koch führte mich in den Lagerraum für das Wildbret, wo die Karkassen mehrerer Tiere aufgehängt waren, jeweils über einem silbernen Trog, in dem das Blut aus den geöffneten Halsschlagadern aufgefangen wurde.
»Nur Silber, Glas oder Töpferwaren dürfen verwendet werden, um das Blut für Milord zu sammeln, sonst trinkt er es nicht«, belehrte mich der Koch mit erhobenem Finger.
»Warum?«
»Andere Gefäße verfälschen den Geruch und Geschmack des Blutes. Auf diese Weise bleibt es rein. Riecht«, befahl mir der Koch und reichte mir eine Schale. Mein Magen hob sich, als mir das metallische Aroma in die Nase schlug, und ich presste unwillkürlich die Hand auf den Mund. Alain wollte schon die Hand schwenken, damit der Koch das Blut wegnahm, aber ich gebot ihm mit einem kurzen Blick Einhalt.
»Bitte sprecht weiter.«
Der Koch sah mich wohlgefällig an und begann weitere Delikatessen aufzuzählen, die auf Matthews Speiseplan standen. Er erzählte mir, dass Matthew gern kalt servierte Rinderbrühe mit Wein und Gewürzen trank. Matthew mochte auch Rebhuhnblut, vorausgesetzt, es wurde in kleinen Mengen und nicht allzu früh am Tag serviert. Madame de Clermont sei nicht so heikel, ergänzte der Koch mit einem betrübten Kopfschütteln, aber leider hatte sie ihren eindrucksvollen Appetit nicht an ihren Sohn vererbt.
»Nein«, erklärte ich knapp und dachte dabei an meinen Jagdausflug mit Ysabeau.
Der Koch tupfte einen Finger in die Silberschale, hielt ihn in die Höhe, sodass das rote Blut im Licht schimmerte, und steckte ihn dann in den Mund, um das Blut über seine Zunge rollen zu lassen. »Am liebsten mag er natürlich Hirschblut. Es ist nicht so reichhaltig wie menschliches Blut, aber ähnlich im Geschmack.«
»Darf ich?«, fragte ich zögernd und streckte den kleinen Finger zur Schale hin. Bei Rehblut rebellierte mein Magen. Vielleicht schmeckte Hirschblut ja anders.
»Das würde Milord nicht gefallen, Madame de Clermont«, mischte sich Alain offenkundig besorgt ein.
»Aber er ist nicht hier.« Ich tunkte den kleinen Finger in die Schale. Dann hielt ich mir das dickflüssige Blut unter die Nase und schnupperte daran, so wie der Koch es getan hatte. Welche Gerüche entdeckte Matthew darin? Welche Geschmacksnoten nahm er wahr?
Als ich mir mit dem Finger über die Lippen strich, wurden meine Sinne mit Informationen überflutet: Wind auf einem zerklüfteten Berggipfel, die friedliche Ruhe in einem Bett aus Laub in einer Senke zwischen zwei Bäumen, die Lust am freien Lauf. All das war unterlegt von einem ruhigen, regelmäßigen Donnern. Einem Puls, einem Herzschlag.
Die Eindrücke vom Leben des Hirsches verblassten viel zu schnell. Plötzlich wollte ich um jeden Preis mehr erfahren und hatte schon den Finger ausgestreckt, als Alains Hand mich aufhielt. Trotzdem erlosch der brennende Wissenshunger erst, als kein Blut mehr in meinem Mund war.
»Vielleicht sollte Madame jetzt in die Bibliothek zurückkehren«, schlug Alain vor und warf dem Koch einen warnenden Blick zu.
Auf dem Rückweg durch die Küche erklärte ich dem Koch, was er zubereiten sollte, wenn Matthew und Philippe von ihrem Ritt zurückkehrten. Als wir durch einen langen Steingang wanderten, blieb ich unvermittelt vor einer niedrigen, offenen Tür stehen. Um ein Haar wäre Pierre von hinten in mich hineingelaufen.
»Wessen Raum ist das?« Bei dem Duft der von den Trockenstangen hängenden Kräuter schnürte es mir die Kehle zu.
»Den nutzt Madame de Clermonts Zofe«, erklärte Alain.
»Marthe«, hauchte ich und trat über die Schwelle. Auf den Regalen standen säuberlich aufgereiht irdene Töpfe, und der Boden war frisch gefegt. In der Luft lag ein leicht medizinischer Geruch – nach Minze? Er erinnerte mich an den Duft, der manchmal aus den Kleidern der Haushälterin gestiegen war. Als ich mich umdrehte, sah ich die Männer zu dritt vor der Türe stehen.
»Männer dürfen den Raum nicht
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