Wo die Nacht beginnt
einen Topf mit dunkler Tinte und sah Alain gespannt an.
»Die Engländer lehnen den neuen päpstlichen Kalender ab«, antwortete er langsam, als würde er mit einem kleinen Kind sprechen. »Darum ist heute dort erst der siebzehnte November und hier in Frankreich schon der siebenundzwanzigste.«
Ich war durch mehr als vier Jahrhunderte in die Vergangenheit gereist und hatte dabei nicht eine Sekunde verloren, aber meine Reise aus dem England von Königin Elisabeth in das vom Krieg zerrissene Frankreich hatte mich beinahe drei Wochen statt nur zehn Tage gekostet. Ich verkniff mir ein Seufzen und überschrieb die Seite mit dem korrekten Datum. Dann hielt ich inne.
»Das heißt, dass am Sonntag der erste Advent ist.«
» Oui. Das Dorf – und Milord natürlich – werden dann bis zum Heiligen Abend fasten. Nur am siebzehnten Dezember wird der Haushalt das Fasten gemeinsam mit dem Seigneur brechen.« Wie fasteten eigentlich Vampire? Meine Kenntnisse der christlichen Bräuche halfen mir in diesem Fall nicht weiter.
»Was geschieht am siebzehnten Dezember?« Ich prägte mir auch dieses Datum ein.
»Da begehen wir die Saturnalien, Madame«, sagte Pierre. »Die Feier für den Gott der Ernte. Sieur Philippe pflegt immer noch die alten Sitten und Gebräuche.«
»Antik« wäre passender gewesen. Die Saturnalien wurden seit dem Ende des römischen Imperiums nicht mehr gefeiert. Ich kniff mir in die Nasenwurzel, mir wurde das alles zu viel. »Fangen wir noch mal von vorne an, Alain. Was genau passiert an diesem Wochenende in diesem Haus?«
Nach dreißig Minuten und drei weiteren vollgeschriebenen Blättern wurde ich mit meinen Büchern, Papieren und einem brummenden Schädel allein gelassen. Irgendwann später hörte ich Lärm in der Halle, gefolgt von bellendem Lachen. Eine vertraute Stimme meldete sich mit einem Ruf zurück, und sie klang voller und wärmer, als ich sie lange gehört hatte.
Matthew.
Bevor ich meine Papiere beiseitelegen konnte, stand er neben mir.
»Hast du überhaupt gemerkt, dass ich weg war?« Matthews Gesicht war leicht gerötet. Seine Finger umspielten eine lose Haarsträhne, dann legte er die Hand in meinen Nacken und drückte einen Kuss auf meine Lippen. Ich schmeckte kein Blut auf seiner Zunge, nur den Wind und die frische Natur. Matthew war geritten, aber er hatte nichts erlegt. »Was vorhin geschehen ist, tut mir leid, mon cœur «, flüsterte er mir ins Ohr. »Verzeih mein schlechtes Benehmen.« Der Ritt hatte ihn erfrischt, und zum ersten Mal verhielt er sich seinem Vater gegenüber ganz ungezwungen und natürlich.
»Diana«, sagte Philippe und trat hinter seinem Sohn hervor. Er griff nach dem nächstbesten Buch, nahm es mit an den Kamin und blätterte darin herum. »Du liest Die Geschichte der Franken – nicht zum ersten Mal, nehme ich doch an. Natürlich wäre dieses Buch wesentlich erfreulicher, wenn Gregors Mutter den Verfasser beraten hätte. Armentaria sprach ein beeindruckendes Latein. Ich freute mich über jeden ihrer Briefe.«
Ich hatte die berühmte Universalgeschichte des Gregor von Tours noch nie gelesen, aber das brauchte Philippe nicht zu wissen.
»Als er und Matthew in Tours in die Schule gingen, war dein berühmter Gregor ein zwölfjähriger Bursche. Matthew war damals schon deutlich älter als der Lehrer, von den anderen Schülern ganz zu schweigen, und ließ sich in den Unterrichtspausen von den anderen Kindern wie ein Streitross reiten.« Philippe überflog die Seiten. »Wo ist die Stelle mit dem Riesen? Die mag ich am liebsten.«
Alain trat mit einem Tablett ein, auf dem zwei Silberschalen standen. Er stellte sie auf dem Tisch am Kamin ab.
» Merci, Alain .« Ich deutete auf das Tablett. »Ihr seid bestimmt hungrig. Der Koch lässt euch das schicken. Warum erzählt Ihr mir nicht, was Ihr heute Vormittag erlebt habt?«
»Ich brauche nichts …«, setzte Matthew an. Sein Vater und ich schnauften im Chor. Philippe ließ mir mit einem dezenten Nicken den Vortritt.
»Doch, du brauchst das sehr wohl«, sagte ich. »Es ist Rebhuhnblut, das du zu dieser Uhrzeit durchaus vertragen müsstest. Ich hoffe allerdings, dass du morgen und auch am Samstag jagen gehst. Falls du die nächsten vier Wochen fasten willst, solltest du davor so viel Kraft schöpfen wie nur möglich.« Ich dankte Alain, der sich daraufhin verbeugte, seinem Herrn einen kurzen verschleierten Blick zuwarf und eilig verschwand. »Ihr bekommt Hirschblut, Philippe. Es wurde erst heute Morgen
Weitere Kostenlose Bücher